Etliche BewohnerInnen der kantonalen Notunterkünfte (NUK) erhielten seit Frühling 2016 sogenannte Eingrenzungen. Seit Ende Januar 2017 müssen sie zudem zweimal täglich in der NUK ihre Unterschrift auf eine Präsenzliste setzen, sonst erhalten sie ihre 8.50 Franken Nothilfe pro Tag nicht. Wie haben Sie von diesen neuen Regeln erfahren?
Manuela Schiller: Ich habe Ende Juni/Anfang Juli 2016 erstmals von jemandem gehört, der eine Eingrenzungsverfügung erhalten hatte: Er durfte die Gemeinde, in der ‹seine› NUK steht, nicht mehr verlassen. Ich dachte mir gleich, dass er wohl kein Einzelfall sei, sondern dass hinter den Kulissen ein Strategiewechsel im Gang sein dürfte.
Woraufhin Sie aktiv wurden?
Ja, ich erkundigte mich bei der Freiplatzaktion Zürich und bei der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich SPAZ, ob sie auch solche Fälle hätten. Sie bejahten, woraufhin wir uns zu einer ersten Sitzung trafen, um uns über diese neue Praxis auszutauschen und uns eine Meinung dazu zu bilden. Dabei wurde schnell klar, was es als erstes anzupacken galt.
Was denn?
Wir mussten die potenziell Betroffenen selbst aufsuchen, da sie ja nicht mehr aus ihren Gemeinden weg konnten: Sogar um zu einem Anwalt oder einem Arzt gehen zu dürfen, müssen sie beim Amt für Migration erst eine Spezialbewilligung beantragen. Gleichzeitig war rasches Handeln gefragt. Die Rekursfrist beträgt nur dreissig Tage. Man muss sich die Vollmacht und dann die Akten beschaffen und studieren, mit den Klienten sprechen und die Eingabe verfassen.
Weder Freiplatzaktion noch SPAZ haben sehr viel Personal – konnten Sie überhaupt mehr als ein paar wenigen Glücklichen helfen?
Sowohl von der Freiplatzaktion als auch von der Autonomen Schule Zürich ASZ meldeten sich rasch viele Freiwillige, die für uns AnwältInnen – es machen die «üblichen Verdächtigen» mit – in die NUK gingen und dort mit den Leuten redeten, die Verfügungen und sonstigen Papiere einsammelten und die Betroffenen die Vollmacht unterschreiben liessen, die wir brauchen, um in ihrem Namen Eingaben zu machen. Einige Betroffene wurden direkt an uns verwiesen. Anderen wurden Mustereingaben abgegeben.
Aber wer nicht in den Genuss eines Besuches gekommen ist, hat wohl einfach Pech gehabt.
Das ist vielleicht so: Einige sind relativ gut vernetzt. Sie besuchen die Autonome Schule, haben Kontakt mit der Heilsarmee oder dem ‹Christehüsli›. Andere haben kaum noch Kontakte. Wer dann auch nicht gut Deutsch spricht und keinEnglisch, Italienisch oder Französisch versteht, der oder die hat schlechte Karten.
Wie gut stehen umgekehrt die Chancen, mit einem Rekurs Recht zu bekommen?
Ich habe letztes Jahr einen Fall vor dem Zwangsmassnahmengericht gewonnen: Die Eingrenzung wurde ganz aufgehoben. In einem weiteren Fall wurde entschieden, dass sich der Betroffene neu im ganzen Bezirk Dietikon und in Zürich im Kreis 9 bewegen darf und nicht mehr nur in der Gemeinde Urdorf, in der ‹seine› NUK steht. Einen anderen Fall habe ich ans Bundesgericht weitergezogen, wo er zurzeit hängig ist. Es geht um einen Tibeter. Im abgelehnten Asylentscheid wurde festgehalten, er könne zwar nicht nach China zurück, eine Rückkehr nach Indien oder Nepal sei jedoch möglich. Weder die indische noch die nepalesische Botschaft haben meine diesbezüglichen Anfragen beantwortet.
An der Medienkonferenz sprachen Sie im Zusammenhang mit rechtlichen Mitteln von einer EU-Rückführungsrichtlinie, die auch die Schweiz anwenden müsste – was sie aber anscheinend nicht tut.
Das hat meines Wissens Kollege Peter Niederöst herausgefunden, und es scheint, dass diese Richtlinie hierzulande praktisch nirgends beachtet wird: Gemäss dieser EU-Richtlinie zur Rückführung von «sich illegal aufhältlichen Drittstaatsangehörigen» dürfen nationale Strafbestimmungen erst angewendet werden, wenn vorher im verwaltungsrechtlichen Verfahren alles Zumutbare für den Vollzug des Rückkehrentscheides vorgekehrt wurde. Einer Eingrenzung steht diese Richtlinie hingegen nicht entgegen. In der Praxis heisst das, dass beispielsweise abgewiesene Asylsuchende, die zurzeit nicht ausgeschafft werden können, eigentlich gar nicht wegen rechtswidrigen Aufenthalts verurteilt werden dürften.
Weshalb «dürften»?
Weil die Regel anscheinend auch den StaatsanwältInnen nicht bekannt ist – oder sie sich einfach darum foutieren. Abgewiesene Asylbewerber werden von der Polizei regelmässig in den Notunterkünften abgeholt oder anlässlich einer Polizeikontrolle festgenommen und der Staatsanwaltschaft zugeführt. Das erste Mal erhalten sie eine bedingte Geldstrafe, beim nächsten Mal eine kürzere Freiheitsstrafe und so weiter. Maximal können sie dafür mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft werden. Diese Strafen müssten allerdings zusammengezählt werden, und mehr als total ein Jahr Gefängnis wäre nicht zulässig. Doch meist verstehen die Betroffenen die Strafbefehle nicht und kennen auch ihre Rechte schlecht. Es gibt kaum Einsprachen. Diese müssten innert der sehr kurzen Frist von zehn Tagen erfolgen. Also landen sie einfach wieder im Gefängnis. Ich habe einen Klienten, der auf diese Weise weit über ein Jahr abgesessen hat. Das geht gar nicht.
Und daran können Ihre Einsprachen etwas ändern?
Die StaatsanwältInnen im Kanton Zürich kennen inzwischen die EU-Rückführungsrichtlinie. Und die Gerichte wenden sie an. Meine KollegInnen und ich erheben konsequent Einsprachen. Je nach Bezirk wird der Strafbefehl aufgehoben und das Verfahren eingestellt. In anderen Fällen wird der Fall zur Anklage gebracht. Wir haben mehrere Freisprüche erwirkt. Was passiert aber mit all jenen, die keine rechtliche Vertretung haben? Ich sehe immer wieder Strafbefehle von Zürcher Staatsanwaltschaften und lese regelmässig von Verurteilungen auch in anderen Kantonen.
Woran liegt das?
Die Betroffenen leben meist ohne ein soziales Netzwerk. Sie kennen ihre Rechte nicht. Sie sind mittellos. Die Justiz reiht sich im Abwehrkampf gegen illegal Anwesende ein. Oft hat es System, manchmal ist es Gedankenlosigkeit oder Gleichgültigkeit. Eine Mehrheit in der Schweiz scheint sich in dieser Frage um rechtsstaatliche Prinzipien zu foutieren. Dieser Zeitgeist beeinflusst uns alle. Das Migrationsstrafrecht ist ein Randgebiet. Selbst ich als erfahrene Anwältin hatte – nachdem ich in diesem Bereich seit Jahren nicht mehr gross tätig war – nichts von der EU-Richtlinie gehört. Ich hatte einem Betroffenen empfohlen, einen ‹milden› Strafbefehl zu akzeptieren. Ich wurde dann von einer Aktivistin der autonomen Schule darauf angesprochen. Solche Fälle übernehme ich oft aus Solidarität und ich gehe ein Kostenrisiko ein. Diese Mandanten können keinen Vorschuss bezahlen. Es sind nicht unbedingt amtliche Mandate. Bei einer Verurteilung habe ich dann definitiv gratis gearbeitet. Selbst bei einem Freispruch und der Zusprechung einer Anwaltsentschädigung muss ich damit rechnen, auch leer ausgehen zu können. Falls mein Mandant bei der Gerichtskasse von früheren Verfahren noch offene Rechnungen hat, wird diese Entschädigung mit seinen Schulden verrechnet.
Nebst den Eingrenzungen gilt seit Ende Januar auch noch der Anwesenheitszwang: Auf welche rechtliche Grundlage stützt sich diese Massnahme?
Das wüsste ich auch gern. Bis jetzt sind mir lediglich Zettel mit dem Kopf der Sicherheitsdirektion bzw. des kantonalen Sozialamts zu Gesicht gekommen, die den Titel «Merkblatt für die Ausrichtung von Nothilfeleistungen in den kantonalen Notunterkünften» tragen. Darin heisst es, Nothilfebeziehende hätten «keine freie Wahl des Wohnsitzes», und Anspruch auf den Geldbetrag für den Lebensunterhalt hätten nur Personen, «die sich tatsächlich in der ihr zugewiesenen Notunterkunft aufhalten und insbesondere auch dort übernachten». Wer bei der täglichen Anwesenheitskontrolle am Vormittag und am Nachmittag nicht anwesend sei, erhalte für den betreffenden Tag kein Geld. Nun ist ein ‹Merkblatt› juristisch gesehen gar nichts – was wir brauchen, ist eine rekursfähige Verfügung. Eine solche werde ich nun für meine Mandanten anfordern. Parallel dazu werde ich wohl bei der kantonalen Sicherheitsdirektion Feststellungsbegehren stellen. Ich gehe davon aus, dass wir die zuständigen Stellen mit Arbeit eindecken werden. Den ersten Rekurs hat einer meiner Anwaltskollegen jedenfalls bereits eingereicht, und wir anderen stehen bereit für eine Runde Copy-Paste.
Dass die BezügerInnen von Nothilfe keine freie Wohnsitzwahl haben, ist weder neu noch illegal: Was genau soll Gegenstand dieser Rekurse sein?
Dass abgewiesene Asylsuchende in der Wahl ihres Wohnsitzes nicht frei sind, beanstanden wir gar nicht; diese Regel ist rechtlich legitimiert. Doch die nun angeordnete Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die neue Anwesenheits- und Meldepflicht ist rechtswidrig. Denn wer diesen Pflichten nicht nachkommt, dem wird das verfassungsmässig garantierte Recht auf Hilfe in Notlagen eingeschränkt, nur um ihn zu disziplinieren und unter Druck zu setzen. Das ist unzulässig, denn der Anspruch auf minimale Nothilfe ist keine Sozialhilfe, und das Recht darauf besteht laut einem Urteil des Bundesgerichts voraussetzungslos. Will heissen: Diese Nothilfe steht allen Menschen in der Schweiz zu, auch AusländerInnen, und zwar unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus und davon, ob jemand verschuldet oder unverschuldet in Not geraten ist. Natürlich ist es zulässig, diesen Menschen gewisse Auflagen zu machen; diese dürfen aber nicht «sachfremd» sein.
Wie ist das zu verstehen?
Ein Beispiel: Selbst die Weigerung, bei der Papierbeschaffung mitzuwirken, kann zu keinen Auflagen für die Auszahlung der Nothilfe führen. Wenn nun aber bereits die Weigerung, zweimal täglich in der Notunterkunft seine Anwesenheit per Unterschrift zu bestätigen, dazu führt, dass einem keine Nothilfe ausbezahlt wird, dann handelt es sich bei dieser neuen Regelung höchst wahrscheinlich um eine «sachfremde» Auflage. Im Übrigen hat das Bundesgericht bereits festgehalten, dass die wöchentliche Auszahlung der Nothilfe gerade noch als mit Art. 12 der Bundesverfassung (Recht auf Hilfe in Notlagen) vereinbar ist. Ein ‹menschenfreundlicher› Auszahlungsrhythmus wäre problemlos möglich.
Kennen Sie die Gründe, weshalb der Kanton Zürich abgewiesene Asylsuchende – und deren AnwältInnen, die nicht einmal zu allen NUK Zutritt erhalten – einem strengeren Regime unterwirft als praktisch alle andern Kantone?
Nein, da kann ich nur rätseln. Der Kanton Zürich muss sich ja, anders etwa als der Kanton Waadt, keineswegs vorwerfen lassen, zu wenige Rückschaffungen durchzuziehen, und auch sonst erfüllt er seine Pflicht. Zwar habe ich schon gehört, dass die Präsenzlistenregelung verhindern soll, dass sich ‹Fremdschläfer› in den NUK aufhalten, also Menschen, die dort nicht angemeldet sind. Dieser Grund erscheint mir jedoch vorgeschoben. Weiter wird vorgebracht, man müsse wissen, wo sich die Betroffenen aufhielten, um ein Untertauchen zu verhindern oder die Ausschaffung zu ermöglichen. Das ist ein Witz. Ich könnte mir eher vorstellen, dass man sich beim kantonalen Migrationsamt nicht mehr so sicher ist, dass man die Eingrenzungen über längere Zeit aufrecht erhalten kann – die Proteste dagegen nehmen ja stetig zu. Also greift man mit der Anwesenheitspflicht schon mal zur nächsten Schikane. Ich zweifle jedenfalls nicht daran, dass es bei allen Verschärfungen der letzten Jahre in erster Linie darum ging, die Betroffenen zu schikanieren, zu zermürben und von der ansässigen Bevölkerung zu isolieren.
Am Montagabend verschickte die SP Kanton Zürich eine Medienmitteilung, in der sie bekanntgibt, dass ihr Sicherheitsdirektor Mario Fehr die Präsenzkontrollen nochmals überdenken will; zudem habe er «eine Lockerung der Praxis in Aussicht gestellt»: Ziel erreicht?
Ich bin erst mal gespannt, wie sich diese «Lockerung» präsentiert. Die Meldung der SP bestätigt aber meine Einschätzung: Ich ging stets davon aus, dass die Mehrheit der SP-Basis kaum hinter der harten Haltung ihres Sicherheitsdirektors steht und man eher auf die Basis setzen soll, statt ihn ständig zu kritisieren. Wenn er nun tatsächlich nochmals über die Bücher geht, umso besser – und sonst sind meine KollegInnen und ich wie gesagt bereit, ihn und sein Amt mit Rekursen einzudecken und unseren Beitrag dazu zu leisten, dass den unhaltbaren Zuständen ein Ende bereitet wird.
P.S. vom 24. Februar 2017 P.S.-Interview als PDF