In seiner Botschaft zum Steuerharmonisierungsgesetz (StHG) hielt der Bundesrat schon 1983 fest: «Die kantonalen Privilegien für Holding- und Domizilgesellschaften sind seit längerer Zeit Gegenstand interner und vor allem ausländischer Kritik. Diese Kritik ist zum Teil berechtigt.» Da eine schlichte Aufhebung aber «auf entschiedenen Widerstand aus Wirtschaftskreisen und betroffenen Kantonen stossen» würde, versuchte der Bundesrat, «die Steuererleichterungen auf ein sachlich vertretbares Mass» zu beschränken. Bei der direkten Bundessteuer sollten jedoch weiterhin keine Sonderregelungen gelten.
Abschaffung der Kapitalsteuer beim Bund
Das änderte sich mit der Unternehmenssteuerreform I, die 1997 beschlossen wurde und 1998 inkrafttrat. Sie brachte im wesentlichen vier Neuerungen:
- Wechsel vom renditeabhängigen Dreistufentarif (3.63% bis 9.8%) zum einheitlichen Proportionaltarif von 8.5% bei der Gewinnsteuer des Bundes;
- Abschaffung der Kapitalsteuer von 0.8 Promille beim Bund;
- Offizielle Zulassung der gemischten Gesellschaften im Rahmen des Steuerharmonisierungsgesetzes (StHG);
- Ausweitung des Beteiligungsabzugs auf Kapitalgewinne.
«Gemischte Gesellschaften» werden legalisiert
Während die Einführung der Proportionalsteuer eine überfällige Modernisierung darstellte, zielten die Massnahmen 2 – 4 erklärtermassen darauf ab, die Schweiz für ausländische Multis steuerlich attraktiver zu machen. Mit der Streichung der Kapitalsteuer, die damals gut 400 Mio Franken oder 10 Prozent der Unternehmenssteuereinnahmen einbrachte, sollte der Zuzug kapitalschwerer ausländischer Holdings erleichtert werden. Beim Erlass des StHG 1990 waren neben den Holdings bloss die Domizilgesellschaften zugelassen worden, also Firmen ohne jede aktive Geschäftstätigkeit im Inland. Das stand im Widerspruch zur Praxis in Kantonen wie Zug, wo sogenannte «gemischte Gesellschaften» mit einer «untergeordneten» inländischen Geschäftstätigkeit, namentlich internationale Rohstoffhandelsfirmen, ebenfalls von massiven Steuererleichterungen profitierten. Mit der USR I wurde diese Praxis bundesrechtlich legalisiert und gleichzeitig in alle anderen Kantone exportiert, wo ein explosives Wachstum dieses Firmentyps einsetzte.
Kapitalgewinne auf qualifizierten Beteiligungen werden steuerfrei
Neben der Zulassung der gemischten Gesellschaften wohl am folgenschwersten war die neu eingeführte Steuerbefreiung von Kapitalgewinnen bei der Veräusserung massgeblicher Beteiligungen von mindestens 20 Prozent (mit der USR II wurde die Mindestbeteiligungsquote 2008 auf 10 Prozent herabgesetzt und ist bis heute so gültig). Eine vertiefte Begründung dafür blieben Bundesrat und Parlament schuldig. Dass Dividendeneinkünfte von Tochtergesellschaften steuerlich privilegiert werden, weil die Gewinne bei der Tochter schon einmal versteuert worden sind, mag noch einleuchten. Dass aber Kapitalgewinne aus dem Verkauf von Beteiligungen, die noch gar nirgends vorgängig besteuert worden sind, steuerbefreit werden, ist unter keinem Titel nachvollziehbar. Für neu aus dem Ausland zuziehende Beteiligungsgesellschaften sollte dieses Steuer-Goodie als Anlockprämie ab sofort gelten: sie konnten Beteiligungen in die Schweiz zügeln und dort steuerfrei veräussern. Die Verkaufsgewinne aus bereits im Inland bestehenden Beteiligungen sollten dagegen noch während zehn Jahren bis Ende 2007 steuerbar bleiben.
Milliardengeschenk an Nestlé
Pünktlich nach Ablauf dieser Sperrfrist veräusserte Nestlé 2008 und 2010 in zwei Tranchen (erst 24.8%, dann 52%) ihre Beteiligung an der Alcon Inc., dem Weltmarktführer für Augenkrankheiten, an Novartis. Gemäss Geschäftsberichten 2008 und 2010 erzielte sie dabei einen Nettoerlös von 10’819 respektive 29’903 Millionen Franken, zusammen also über 40 Milliarden Franken – komplett steuerfrei! Bei der Bundessteuer profitierte Nestlé vom Beteiligungsabzug, der mit der USR I auch auf Veräusserungsgewinne ausgeweitet worden war, beim Kanton von der allgemeinen Gewinnsteuerbefreiung als Holding. Seit 1998 haben landauf, landab zahlreiche Firmen von diesem Steuerschlupfloch Gebrauch gemacht.
Der direkten Bundessteuer gingen bei der Alcon-Transaktion insgesamt rund 3.5 Milliarden Franken Einnahmen durch die Lappen. Anschaulich verfolgen kann man das anhand der offiziellen Statistik über die direkte Bundessteuer für juristische Personen der Jahre 2007 bis 2010 (alle Beträge in Mio CHF). Die Spalten 2 und 3 zeigen die in der Gemeinde Vevey deklarierten Gewinne und die abgelieferten Bundessteuern. Die deklarierten Gewinne von Vevey korrelieren ziemlich genau mit den Gewinnen der Nestlé AG gemäss Geschäftsberichten (Spalte 5).
Jahr |
Vevey |
Vevey |
Steuer- |
Nestlé AG |
Anteil |
Gewinne |
Steuern |
belastung |
Gewinne |
Kapitalgewinn | |
2007 |
7 090 |
36.7 |
0.52% |
7 191 | |
2008 |
16 069 |
9.9 |
0.06% |
16 160 |
10 819 |
2009 |
6 506 |
86.8 |
1.33% |
6 242 | |
2010 |
37 818 |
49.1 |
0.13% |
37 494 |
29 903 |
Wichtige Aspekte in der Debatte übersehen
Im Übrigen zeigt die Debatte zur USR I ein Muster, dem wir auch bei späteren Steuerdebatten wieder begegnen: die ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf Massnahmen, die im Fokus der öffentlichen Debatte stehen, während viel folgenschwerere Änderungen oft fast diskussionslos durchgehen. Intensiv diskutiert wurden im Parlament vor allem die Höhe des Proportionaltarifs und mögliche Kompensationsmassnahmen für den Wegfall der Kapitalsteuer. Die Zulassung der gemischten Gesellschaften und die Steuerbefreiung von Kapitalgewinnen auf qualifizierten Beteiligungen passierten dagegen unter ferner liefen.
Kann-Bestimmungen als Placebo im StHG
Auch ein zweites Muster ist erkennbar. Wo die Kantone Widerstand gegen einzelne Massnahmen anmelden, weil sie Einnahmenausfälle befürchten, weicht man im Steuerharmonisierungsgesetz auf Kann-Bestimmungen aus. Ursprünglich wollte der Bundesrat die Steuerbefreiung von Kapitalgewinnen auch den Kantonen zwingend vorschreiben. Als Kompromiss einigte man sich darauf, dass den Kantonen freigestellt wird, ob sie dieses Steuerschlupfloch einführen wollen oder nicht. Im sicheren Wissen, dass es dann doch alle einführen werden, weil keiner der Löli sein will, der es nicht anbietet.
Als im Zürcher Kantonsrat die Umsetzungsvorlage zur USR I debattiert wurde, löckte wenigstens die SP ein wenig gegen den Stachel und enthielt sich in diesem Punkt der Stimme. «Die Frage nach der Höhe der zu erwartenden Steuerausfälle» – so Kommissionssprecherin Elisabeth Derisiotis – «ist für eine Zustimmung zu dieser Gesetzesänderung für uns zentral. (…) Es wurde uns gesagt, eine diesbezügliche Schätzung sei unmöglich und Erfahrungswerte lägen keine vor. Im Übrigen hätten alle anderen Kantone von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht und eine Nichtanpassung würde sich für den Kanton Zürich als Standortnachteil auswirken.»
(Fortsetzung folgt)
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