Nach 38 Jahren verlässt Niggi Scherr den Gemeinderat. Am Mittwochabend hielt er vor vollen Rängen seine Rücktritts-Rede:
Heute verlasse ich den Zürich Gemeinderat. Als ich im Herbst 1978 für den Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann nachrückte, war ich 34. Inzwischen sind 38 Jahre in diesem Saal hinzugekommen, mehr als zwei Drittel meines Erwachsenenlebens und über 2’000 Sitzungen. Damit habe ich hier drinnen ein Jahr länger ausgeharrt als Otti Schütz, der mir als politischem Jungspund der POCH 1973 eine Audienz gewährte.
Es ist etwas schwierig für mich, heute vor Ihnen eine Abschiedsrede zu halten. Eine Auflistung meiner Siege und Niederlagen möchte ich Ihnen ersparen. Und nach so langer Zeit und vier Alterspräsidentenreden habe ich das Gefühl, schon fast alles gesagt zu haben, was man zum Theater Limmatblick, diesem grössten Laienschauspielensemble unserer Stadt, sagen kann. Also habe ich mich ein bisschen selbst beklaut und abgeschrieben…
Ich glaube, Koni Loepfe war der erste, der mich als politisches Urgestein apostrophiert hat – eine höfliche Umschreibung für Fossil. Anlässlich meiner Rücktrittsankündigung hat sogar das ehemalige Zentralorgan des Klassenfeindes anerkennende Worte gefunden und mir extra einen Fotografen geschickt. Die meisten hier drinnen haben mich sozusagen als Teil des Inventars wahrgenommen. Als Parlamentarier habe ich stets alle Register gezogen und alle Kniffe eingesetzt. Aber ich schlafe nicht – Marx bewahre! – mit der Geschäftsordnung unterm Kopfkissen, wie Ex-Kollege Tuena vermutet – am Kopfende meines Betts liegen immer ein paar Bände mit Gedichten von Pablo Neruda griffbereit.
Das Parlament ist ein zentrales Element der checks und balances, die für das Funktionieren einer Demokratie unabdingbar sind. Es ist Garant für Transparenz und Kontrolle staatlichen Handelns und verwirklicht eine Art institutionalisiertes 4-Augen-Prinzip: gewichtigere Vorlagen der Regierung werden hier einer Zweitmeinung unterzogen. Weil diese second opinion in unserem Fall von 125 Personen formuliert wird, könnte man von einer Art Schwarmintelligenz sprechen. Wobei mich, ehrlich gesagt, an manchen Mittwochen tiefste Zweifel befallen haben, ob dem so ist…
Parlament kommt von parlare, reden. Doch Politik ist mehr Handwerk als Maulwerk. Am Schluss zählen die Taten, nicht die Worte. Vergessen Sie Tele Gilli-Gilli, Politik ist kein Quickie mit einer Halbwertszeit von 20 Minuten, kein Facebook-Event, das mit likes bewertet wird. Generell und noch immer gilt der träfe Satz von Max Weber: «Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.» Das habe ich mir zu Herzen genommen, ich wollte immer ein guter Handwerker sein. Ich weiss mich da in guter Gesellschaft, schliesslich war August Bebel ja gelernter Drechsler. Beim Bohren der Bretter gibt es vielfältige Möglichkeiten. Man kann sie etwa zuerst ein wenig abschleifen, um sie dann leichter anbohren zu können. Oder gemeinsam bohren. Natürlich kann man so ein Brett auch einfach mit sich herumtragen oder sich an die Stirne nageln, damit alle sofort merken, dass man es gar nicht bearbeiten will. Da gibt es ja Angehörige besonders einer Fraktion, die es damit zu einer gewissen Meisterschaft gebracht haben.
Ich war und bin ein dezidierter Verfechter der res publica – auch in den Unzeiten, als weite Teile der Linken sich vom neoliberalen Bazillus infizieren liessen. Zentrale gesellschaftliche Bedürfnisse sollen öffentlich erörtert und öffentlich finanziert werden, das ist meine feste Überzeugung. Gerade im Zeitalter der Globalisierung sind die Städte wichtige Laboratorien der Zukunft. Die Gestaltung unserer Zukunft gehört nicht in die unsichtbare Hand des Marktes und schon gar nicht in die sichtbaren Hände von Apple, Google, Facebook & Co – auch wenn die Zoogler bereits die Sihlpost und einen Drittel der Europaallee übernommen haben. Der Markt mag ein cleveres System zur Güterversorgung sein. Am Freitag auf dem Helvetiaplatz kann ich verifizieren, ob man mir frischen Salat verkauft oder mölsche Tomaten andrehen will. Als System für die Organisation eines Gemeinwesens taugt der Markt jedoch entschieden nicht. Der Markt ist blind, amorph, verantwortungslos und er kennt nur das Recht des Stärkeren. In Demokratie und Politik herrscht das Prinzip one man, one woman, one vote. Auf dem Markt gilt das Prinzip: the winner takes all. Auf dem Markt bin ich als Bürger ein namenloses Nichts, in der Demokratie Teil des Souveräns. Auf dem Markt bin ich eine Ameise, in der Politik ein Citoyen, der den aufrechten Gang und wo nötig die Rebellion proben kann.
Ich habe in diesem Rat immer mit Verve den Kreis 4 vertreten, mein kleines gallisches Dorf Aussersihl. Hier verläuft das Leben immer noch rauher und ungeschminkter als in Rest-Zürich. Hier bin ich zuhause und hier gehöre ich hin. Hier erzählt jede Strasse, jeder Platz von Kämpfen, auch blutigen, erfolgreichen und erfolglosen. Vom Italienerkrawall und der Aussersihler Blutnacht, von unzähligen Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen, Strassenblockaden, Mieteraktionen, Hausbesetzungen. Hier werde ich immer wieder daran erinnert, dass gesellschaftliche Veränderungen und soziale Verbesserungen nie geschenkt worden sind, sondern immer erkämpft werden mussten und heute mehr denn je verteidigt werden müssen. In meinem Dorf leben viele Menschen, die im Schatten stehen. Fast die Hälfte von ihnen ist ohne Stimm- und Wahlrecht – wie in einem Apartheid-Staat. Als einer, der gut artikulieren kann und die Chance zu einer höheren Bildung erhalten hat, habe ich es immer als eine Verpflichtung erachtet, mich für die Rechte der Schwächeren, der Sprach- und Stimmlosen einzusetzen.
Ohne den Rückhalt in all diesen vergangenen und aktuellen Kämpfen hätte ich es nie geschafft, solange im Mittwochsclub auszuharren.
In all den Jahren hat mich stets ein Gedicht begleitet, das Bertolt Brecht am Vorabend des zweiten Weltkriegs verfasst hat: «An die Nachgeborenen». Ich habe damit Omar, einem Folteropfer der chilenischen Militärjunta, vor über vierzig Jahren deutsch beigebracht. Ich habe heute noch im Ohr, wie er die Eingangszeile «Wirklich ich lebe in finsteren Zeiten» radebrechend wiederholte. Zum Schluss heisst es:
«Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
ohne Furcht verbringen.
Alles das kann ich nicht.»
Ja, ich wäre auch gern weise. Aber der Zorn über die Ungerechtigkeiten dieser Welt und die Wut über die Ungleichheit haben weder ein Verfall- noch ein Rücktrittsdatum. Sie werden nach meinem Abgang von dieser Bühne politisch also weiter mit mir rechnen müssen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rücktrittsrede vom 18. Januar 2017 als PDF
Audioprotokoll der Rücktrittsrede vom 18. Januar 2017