Stephan, bist du eigentlich in der Stadt aufgewachsen?
Nein. In Oberengstringen, in der Agglo also. In einem ziemlich bürgerlichen Umfeld. Als ich 16 war, musste ich wegen meiner familiären Situation nach Zürich in ein Heim. Ich besuchte in dieser Zeit auch die Kantonsschule in der Stadt. Ich erlebte dann verschiedene soziale Probleme mit, wie etwa die Wohnungsnot und die offene Drogenszene.
Dann wurdest du in der Stadt politisiert?
Ja. Mitte/Ende der 1980er. Vor allem durch die Wohnungsnot. Jeden Donnerstag demonstrierten wir im Niederdorf und jedesmal gab`s Tränengas und Gummischrot. Aus dieser Bewegung und aus vielen kleineren Besetzungen entstand dann die Wohlgroth, die grösste Besetzung der Schweiz (1991-1993), die kulturell und sozial sehr viel bewegt hat.
Tränengas und Gummischrot wöchentlich? Geht die Polizei heute friedfertiger mit Demonstrierenden um?
Jein. Wir haben damals mit Steinen und Farbeiern geworfen, worauf die Polizei mit Gewalt reagiert hat. Die Demos, an denen meine Töchter heute teilnehmen – z.B. Schüler- und Welcome Refugees-Demos – werden mit Gummigeschossen zusammengetrieben, ohne dass es zuvor zu irgendeiner Form von Gewalt gekommen wäre. Auch war es früher normal, Demos durch die Bahnhofstrasse laufen zu lassen. Heute werden sie schon daran gehindert, die Langstrasse zu betreten. Das ist eine Verschärfung. Auch wurde etwa in den 1990ern der Dialog zum Teil noch direkter gesucht. Bobby Neukomm, der SP-Polizeivorsteher von 1990 bis 1998, hat sich auch schon mal vor ein besetztes Haus gestellt und mit den Leuten geredet. Richi Wolff hat es da, denke ich, schwieriger, gerade weil er mehr persönliche Beziehungen in die Szene hatte oder hat. Von daher sind oder waren vielleicht gewisse Erwartungen und Enttäuschungen grösser… Vieles liegt hier am Kommando der Polizei, auch das Personal auf allen Hierarchiestufen speilt eine Rolle. Diese Verhältnisse politisch zu beeinflussen und zu ändern, ist schwierig. Ich möchte aber ergänzen, dass gerade in letzter Zeit die Polizeieinsätze an Demos wieder verhältnismässiger ausgefallen sind. Und wir hatten letzte Woche eine gute AL-Sitzung zum Thema Polizeiarbeit.
Du hast also eine lange, politische Geschichte.
Ja. Ich bin zum Beispiel schon lange im Quartier – im Friesenberg – sehr aktiv, als Vorstandsmitglied und Buchhalter des Quartiernetzes und ich habe dort den Elternrat mit aufgebaut. Das ist ein ziemlicher Aufwand, aber es lohnt sich, mit und für die Kinder Aktivitäten zu organisieren und die Elternmitwirkung an der Schule zu stärken, zu vernetzen.
Und wie bist du zur AL gekommen?
Richi Wolff hat vor rund drei Jahren in Albisrieden eine Infoveranstaltung zum Thema Verkehr im Quartier durchgeführt. Ich bin Taxifahrer, deshalb interessiert mich dieses Thema natürlich. Ich habe mich mit einem Anliegen an Richi gewandt, nämlich, sich um die Regulierungen im Taxigewerbe zu kümmern, denn das Taxi kann als halböffentliches Verkehrsmittel angesehen werden und soll damit auch Objekt der Politik sein. Trotzdem ist die Deregulierung in vollem Gang. Die Lizenzbeschränkungen und die Preisbeschränkung nach unten wurden aufgehoben und durch Uber ist das Gewerbe jetzt vollends dem Preisdumping ausgesetzt. Darunter leidet die Qualität der Dienstleistung und natürlich vor allem die Arbeitsbedingungen und das Erwerbseinkommen der Taxifahrerinnen und Taxifahrer. Jedenfalls habe ich mich in der AL schnell wohlgefühlt – unter anderem, weil ich dort viele Ideale und Haltungen wiedergefunden habe, die mir als Genossenschafter vertraut sind.
In was für einer Genossenschaft warst du aktiv?
Nebst der Familienheimgenossenschaft, in der ich wohne, habe ich 10 Jahre lang im Kaffee Zähringer gearbeitet und war dort stark involviert. Das Kollektiv Zähringer hat schon allein durch seine Struktur einen politischen Hintergrund und funktioniert nach klaren linken Idealen. Alle, die dort arbeiten, egal in welcher Funktion, erhalten den gleichen Stundenlohn. Ausserdem waren wir Pioniere, was regionales, biologisches und auch veganes Essen betrifft.
Du bist sehr aktiv unterwegs für die AL, kannst du das noch mit deinen anderen Aktivitäten vereinbaren?
Ja. Ich bin selbstständig und kann meine Arbeitszeiten selber bestimmen.
Auch bei der Kampagne für die Kinderbetreuungsinitiative hast du mitgearbeitet. Frustriert dich die Niederlage?
Ja. Auch wenn ich finde, dass die Kinderbetreuungsinitiative nicht weit genug gegangen ist. Ein Konzept, dass mir besser gefällt, ist das der Kinder- oder Jugendrente, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg entworfen und in den 1990ern in einer «Arena» mal thematisiert worden ist: Die Erwerbstätigen sollen gemeinsam für die Alten und die Kinder der Gesellschaft sorgen. Aber eine solche Vorlage zu einem umfassenden Generationenvertrag hätte sicher einen schweren Stand. Zudem fehlte mir in der Initiative etwas die Rolle des Vaters, der sich auch gerne an der Kinderbetreuung beteiligt.
Was sollte sich in der AL in Zukunft bewegen?
Ein Problem ist, dass wir zwar viele Leute haben, die Ämter besetzen, aber wenig Aktive, die freiwillig Zeit investieren. Für all das, was wir machen wollen, ist die Basis oft zu klein. Besonders brennend ist im Moment auch die Frage, wie es weitergehen soll mit der Regierungsbeteiligung. Ich finde nicht, dass wir zurückkrebsen sollten. Aber damit verbunden ist natürlich nach wie vor das Thema Polizei und was wir daraus machen können. Besonders die Freiheit im städtischen Raum ist ein Anliegen, das mir nahe liegt. Zum Beispiel, was mit dem Koch-Areal passiert, wo auch zwei meiner drei Töchter häufig anzutreffen sind. Auch sie sind politisch aktiv, bei den Roten Falken und anderen antikapitalistischen und systemkritischen Gruppierungen.
Was sagen deine Töchter dazu, dass du in der AL bist?
Es ist auch schon vorgekommen, dass meine Töchter an einer Demo den Spruch «Wer bringt uns in die Kiste? – Die Alternative Liste» mitskandiert haben. Dann wechseln wir kritische Blicke und reden später über dieses Thema. Allerdings muss ich dazu sagen, dass dieser Konflikt nicht nur zwischen mir und meinen Töchtern stattfindet. Er ist auch mein eigener Konflikt. Es ist ein Spagat für jemanden, der das Herz auf der Strasse hat, bei einer Partei Mitglied zu sein, die die Verantwortung für das Polizeidepartement trägt. Es braucht schon eine gewisse Überzeugung, auf der Strasse für Anliegen zu kämpfen, die der Partei wichtig sind, und dabei von Beamten angegriffen zu werden, die dem Stadtrat der gleichen Partei unterstellt sind. Ich denke, dass die AL möglicherweise auch durch diesen Umstand an Aktivisten verloren hat.