Dass die AL-Initiative «Bezahlbare Kinderbetreuung für alle» mit bloss 29.48% Ja-Stimmen einen eigentlichen Absturz erlebt hat, war für viele Schock und Überraschung zugleich. Auch für mich. Als versierter Statistiker traue ich mir im Allgemeinen realistische Prognosen zu. Natürlich erzeugt jeder Abstimmungskampf im Kernteam eine Eigendynamik und verzerrt die Aussenwahrnehmung. Doch aufgrund der Parolen – neben Linksgrün hatten auch BDP und EVP ein Ja und die Grünliberalen, eine 8-Prozent-Partei, Stimmfreigabe beschlossen – und der breiten überparteilichen Unterstützung bis zu Exponentinnen von FDP und SVP hatte ich mit einem Ergebnis deutlich über 40%, im besten Fall mit einem Ja gerechnet.
Linkes Potential knapp ausgeschöpft
Es ist krass anders gekommen. Bei den Ja-Stimmen (29.48%) ist die Initiative sogar noch leicht unter dem Stimmenanteil von Linksgrün bei den letzten Kantonsratswahlen (29.91%) geblieben. Alle Unterstützer-Parteien zusammen kamen 2015 auf 36.80% Wähleranteil, die Initiative erreichte gerade mal vier Fünftel davon. Sie blieb auch deutlich hinter den gleichentags abgestimmten Initiativen «Grüne Wirtschaft» und «AHVplus» mit je rund 38% zurück. Das Resultat liegt auch unter dem Ja-Anteil bei den linken Initiativen für eine vom Kanton mitfinanzierte Kinderbetreuung (Juni 2010: 34.53% Ja) und für die Einführung von Kinder-Ergänzungsleistungen («Chancen für Kinder»;Juni 2007: 33.18% Ja).
Erklärung tut not. An der Kampagne war kaum etwas auszusetzen. An den Finanzen ebensowenig: Mit einem Budget von 160’000 Franken hatten wir mehr Mittel als sonst zur Verfügung. Auch wurde die gesellschaftliche und wirtschaftliche Notwendigkeit einer funktionierenden Kinderbetreuung – zu meinem Erstaunen – von unseren Gegnern kaum bestritten.
Initiative aus gesellschaftspolitischen Gründen gescheitert
Die Abstimmungsanalyse des kantonalen Statistikamtes zeigt, dass die Kinderbetreuungs-Initiative im klassischen Links-Rechts-Schema – ähnlich wie die AHVplus-Initiative – deutlich stärker in der politischen Mitte angesiedelt und damit potentiell eher mehrheitsfähig war als die «Grüne Wirtschaft». Auf der gesellschaftspolitisch relevanten Konfliktlinie progressiv-konservativ blieb sie dagegen klar im progressiven Bereich hängen – ganz im Gegensatz zu umverteilungspolitischen linken Initiativen wie AHVplus, Bezahlbare Krankenkassenprämien oder Bonzensteuer, die markant mehr konservativ Wählende ansprechen.
Wie Mehrheiten zustande kommen
Im Kanton wählten im April 2015 50.01% rechts (EDU, SVP, FDP), davon ein Drittel (32.68%) SVP/EDU. Um eine Mehrheit für eine Initiative zu erhalten, muss man
- entweder das gesamte Potential von Mitte-Links plus ein paar Überläufer von rechts gewinnen (funktioniert aufgrund des hohen Mieteranteils klassischerweise bei Mieter-Initiativen);
- oder einen Grossteil von Mitte-Links ausschöpfen und einen relevanten Anteil konservativer Wähler/-innen (primär SVP) dazugewinnen (war das Erfolgsrezept bei der Prämienverbilligungs- und Pauschalsteuer-Initiative sowie den Privatisierungs-Referenden);
- oder einen Grossteil von Mitte-Links ausschöpfen und einen relevanten Anteil (geselllschafts-)liberaler Wähler/-innen (primär FDP) dazugewinnen (auf dieses Schema haben wir bei der Kinderbetreuungs-Kampagne gesetzt).
Das Fazit
Fazit 1: wir sind zwar teilweise in die politische Mitte vorgedrungen, gleichzeitig aber im progressiven Sektor «hängengeblieben» und haben zu wenig konservativ Wählende abgeholt. Das Thema wurde bloss als sektorielles Anliegen einer Minderheit – Haushalte mit kleinen Kindern – und nicht als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen, ein Zeichen für die wachsende Entsolidarisierung unserer Gesellschaft. Zudem mobilisierte die Initiative von ihrer Positionierung her – zahlbare Betreuung auch für eher gutverdienende Paare – auf der Linken nur schwach. Das zeigte sich erstmals im katastrophalen Ergebnis der Fundraising-Kampagne in der WoZ, das wir als Alarmsignal hätten wahrnehmen müssen. Ohne aktiven Support im eigenen Lager ist ein Sieg nie möglich.
Fazit 2: Gegen die Parteiführung errungene Parolen bringen wenig bis nichts, weil der Apparat sich dafür in der Regel nicht ins Zeug legt. Auch einzelne Überläufer/-innen aus dem gegnerischen Lager bringen nicht viel, wenn sie nicht Ausdruck einer breiten Grundströmung sind.
Niklaus Scherr, Mitglied KiBe-Team