Schauplatz Winterthur: Der Stadtrat handelt
Der Stadtrat erfährt am 9. April 2016 aus dem «Landboten», dass bei der Beteiligung von Stadtwerk Winterthur an der Wärme Frauenfeld AG die Kosten aus dem Ruder gelaufen sind. Bereits am 13. April ordnet er eine Administrativuntersuchung an. Als der erste Zwischenbericht vorliegt, stellt der Stadtrat am 7. Juli den Direktor und den Finanzchef von Stadtwerk per sofort frei und entzieht dem zuständigen Stadtrat die Zuständigkeit für den Werkbereich. Am 23. August liegt der definitive Bericht der Administrativuntersuchung vor. Am 27. September informiert der Stadtpräsident an einer Medienkonferenz über die getroffenen Massnahmen, namentlich die Entlassung der beiden freigestellten Stadtwerk-Kaderleute. Der Verfasser präsentiert ausführlich die Ergebnisse seiner Administrativuntersuchung, die abgesehen von ein paar Anonymisierungen in vollem Wortlaut ins Internet gestellt wird. Sein Fazit: die Leitung von Stadtwerk hat Ausgaben von 2.8 Mio Franken bewilligt, für die der Grosse Gemeinderat zuständig war, und diese auf anderen Konti abgebucht, was der Berichterstatter klar als «Bilanzverschleierung» kritisiert.
Schauplatz Zürich: Filippo verzögert und verharmlost
Dem Vernehmen nach aufgrund von Insiderhinweisen startet die städtische Finanzkontrolle im August 2015 eine Untersuchung über Unregelmässigkeiten bei der Auftragsvergabe, den Ausgabenbewilligungen und Verbuchungen im Zusammenhang mit dem 72.1-Mio-Kredit für den Bau des Logistikzentrums Hagenholz von Entsorgung und Recycling (ERZ). Am 10. September 2015 präsentiert sie Departementsvorsteher Leutenegger und ERZ-Direktor Urs Pauli erste Zwischenergebnisse. Spätestens jetzt weiss Leutenegger, dass einiges faul ist im Staate ERZ, unternimmt jedoch nichts. Vom 2. November bis zum 8. Dezember 2015 feilschen TED-Vorsteher und ERZ-Leitung mit der Finanzkontrolle um den Wortlaut des Kontrollberichts. Am 17. Dezember 2015 tritt Filippo als grosser Aufklärer vor die Medien, präsentiert eine weichgespülte Zusammenfassung des Finanzkontrollberichts und kündigt vollmundig eine Administrativuntersuchung an. Die massiven Kompetenzüberschreitungen bagatellisiert er als «inakzeptable Nachlässigkeit» und die handzahmen Zürcher Leitmedien folgen ihm kritiklos und verzichten auf Eigenrecherchen. Während der ganzen Administrativuntersuchung bleibt Direktor Pauli im Amt und kann im ERZ ungehindert schalten und walten.
Inakzeptabler Persilschein für ERZ-Direktor Pauli
Obwohl die Administrativuntersuchung offenbar schon länger abgeschlossen ist, kommt erst Bewegung in die Sache, als der Gemeinderat im Juni die Abnahme der ERZ-Rechnung verweigert und die AL droht, auch den Abschnitt ERZ im Geschäftsbericht nicht zu genehmigen. Am 4. Oktober 2016 darf die Öffentlichkeit per Medienmitteilung im Telegrammstil Folgendes erfahren: «Der bewilligte Kredit von 72,1 Millionen Franken wurde um rund 14,7 Millionen Franken überschritten, zahlreiche Unterlagen sind nicht vorhanden, das Controlling hat ungenügend funktioniert, Aufträge wurden freihändig vergeben, Vergabekompetenzen wurden überschritten, die Projektdokumentation funktionierte ungenügend.» Abgesehen von der happigen 20-prozentigen Kostenüberschreitung klingt das irgendwie mehr nach bürokratischer Schlampigkeit als nach einem handfesten Skandal. Der Urheber des Finanzdebakels, ERZ-Direktor Urs Pauli, erhält vom Stadtrat denn auch bloss eine Ermahnung, die mildestmögliche Personalmassnahme ohne jede arbeitsrechtliche Konsequenzen. Das wars dann. Vorhang zu. Journalisten, die es etwas genauer wissen wollen, werden von Filippo Dienstagmorgen von 10 bis 11 Uhr zum vertraulichen Gespräch am Kaminfeuer ins Sitzungszimmer im Amtshaus V gebeten.
Unhaltbare Geheimniskrämerei
Ausgerechnet der Medienprofi, der sich gerne rundum transparent gibt, pflegt in der Causa ERZ äusserste Geheimhaltung. Da gibt es einen Bericht der Finanzkontrolle: geheim. Die vom Tiefbauvorsteher angeordnete Administrativuntersuchung: geheim. Der Abschlussbericht des Stadtrats: geheim.
Immerhin wissen wir jetzt, dass der bewilligte Baukredit um 14.7 Mio Franken oder sagenhafte 20 Prozent überschritten wurde. Und dass die ERZ-Leitung dies zu verschleiern versuchte, indem sie unzulässigerweise Ausgaben für das Logistikzentrum auf Unterhaltskonten verbuchte, gemäss Bericht der Rechnungsprüfungskommission allein 4 Mio Franken in der Rechnung 2015. Und dank der WoZ wissen wir etwas konkreter, was im Finanzkontrollbericht steht:
- von 140 bezahlten Rechnungen von vier Lieferanten im Umfang von 10 Mio Franken fehlen in 109 Fällen die Offerten und in 132 Fällen die Verträge, Leistungsrapporte sind überhaupt keine vorhanden; laut ERZ seien die Unterlagen «versehentlich entsorgt» worden;
- der überwiegende Teil der Aufträge hätte öffentlich ausgeschrieben werden müssen, was nicht geschah;
- in fast zwei Dutzend dokumentierten Fällen wurden die Ausgabenkompetenzen überschritten, indem die Kredite gezielt gesplittet wurden;
- sechs Aufträge im Wert von 300’000 bis 640’000 Franken bewilligte ERZ-Direktor Pauli in Eigenregie, obwohl dafür die/der politische Vorgesetzte (Genner resp. Leutenegger) zuständig war.
Personelle Konsequenzen und volle Transparenz
Die Parallelen zum Wärmering-Debakel in Winterthur springen in die Augen: massive Kostenüberschreitungen, Verstoss gegen Ausgabenkompetenzen, Vertuschungsbuchungen auf falschen Konten. Die Verfehlungen im Fall Hagenholz – Missachtung der Submissionsverordnung, Fehlen oder Vernichtung von Offerten und Verträgen – gehen zweifellos noch darüber hinaus. Im Gegensatz zu Winterthur sind aber bis jetzt weder Tiefbauvorsteher Leutenegger noch der Gesamtstadtrat bereit, die erforderlichen personellen Konsequenzen zu ziehen und zugleich Transparenz herzustellen.
Artikel 77 des städtischen Personalrechts besagt: «Die Angestellten müssen rechtmässig handeln und die ihnen übertragenen Aufgaben persönlich, sorgfältig, wirtschaftlich und im Interesse der Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ausführen.» Das gilt ganz speziell für Kaderleute. Dieser Anforderung vermag Urs Pauli, der sich im ERZ-Geschäftsbericht gerne als selbsternannter CEO aufplustert, nicht zu genügen. Wer zulasten von uns allen als ERZ-Zwangsgebührenzahlern 15 Mio Franken verpulvert und das zu vertuschen versucht, hat seinen Kredit verwirkt.
Nicht nur die Zeit des Händchenhaltens ist vorbei, auch die Ära der Geheimniskrämerei. Wir haben genug von der Politik des Hörensagens: Der Bericht der Finanzkontrolle, das Ergebnis der Administrativuntersuchung und der Abschlussbericht des Stadtrats müssen in vollem Wortlaut auf den Tisch.