Konsequenterweise hätte die EU zusammen mit dem über Griechenland verhängten Spardiktat auch den Hippokratischen Eid aufheben müssen, dem weltweit alle ÄrztInnen und PflegerInnen verpflichtet sind. Mit ihm auch gleich Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wonach jeder Mensch das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard hat, der Gesundheit und Wohlbefinden, ärztliche Betreuung und notwendige Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet.
Um diese humanitären Prinzipien und um Nachhaltigkeit und soziale Verträglichkeit ging es der damaligen Troika und geht es auch der heutigen Quadriga nicht, wenn Sparpakete und ‹Reformen› diktiert werden. Wir alle kennen den Spruch «Operation gelungen – Patient tot». Die Situation in Griechenland ist noch schlimmer, denn es ist mehr als zweifelhaft, ob die Operation, die allein aus Austeritätsmassnahmen (Kürzungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, kombiniert mit Steuererhöhungen) besteht, überhaupt gelingen kann. Die Fakten sind selbstredend. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 62 Prozent – und wer eine Stelle im Ausland findet, verlässt das Land. Mehr als 3 Millionen der rund 11 Millionen GriechInnen sind ohne Krankenversicherung, d.h. ohne Zugang zu medizinischen Leistungen und Medikamenten. 3,8 Millionen Menschen leben an der Armutsgrenze mit rund 430 Euro pro Monat, 2,5 Millionen sogar darunter, nämlich mit durchschnittlich 230 Euro pro Monat. Die Kaufkraft ist auf das Niveau von 1970 zurückgegangen. Die Sterblichkeitsrate von Leuten über 55 Jahren hat deutlich zugenommen, und im Land mit der bisher niedrigsten Suizidrate Europas haben sich in den letzten fünf Jahren rund 10 000 Personen das Leben genommen. Es gibt wieder mehr Hunger im Land, und die Kinder sind die grossen Leidtragenden. Die Grundversorgung ist teurer geworden – viele sparen beim Heizen oder haben keinen Zugang mehr zu Elektrizität. Und Mangelerscheinungen öffnen das Tor zu mehr Krankheiten, deren Behandlung sich viele dann nicht leisten können.
Alle diese Trends stehen in direktem Zusammenhang mit der über Griechenland verhängten Austeritätspolitik, die nicht nur humanitäre Prinzipien zu leeren Worthülsen verkommen lässt, sondern auch öffentliche Infrastrukturen zerstört und das griechische Wohlfahrtssystem und Gesundheitswesen ausgehöhlt hat. Ein Land kaputt sparen, so nennt man das wohl. Und als ob dies nicht genug wäre, überlässt Europa es auch bei der Versorgung von Hunderttausenden von Flüchtlingen seinem Schicksal. Wohl auch in der zynischen Hoffnung, eine Mehrheit der GriechInnen wende sich dann von der für Brüssel zu linken Syriza doch noch ab. Diese Rechnung wurde aber ohne den Wirt gemacht – gerade auf den Inseln, die von den Flüchtlingsströmen besonders betroffen sind, gehörte die stark polemisierende rechtsextreme Goldene Morgenröte zu den Wahlverlierern, während Syriza zulegen konnte.
Überhaupt mag einen die griechische Gesellschaft überraschen – und gleichzeitig beschämen. Zugegebenermassen aus der Not geboren, haben sich über die letzten Jahre zahlreiche Netzwerke entwickelt, deren Fundament der Solidaritätssinn ihrer Mitglieder ist. Sie halten unter widrigsten Umständen an den Werten der modernen Zivilisation fest, deren einer besagt, den Schwächsten zu helfen. Hunderte, wenn nicht Tausende stellen ihre Dienste unentgeltlich und freiwillig oder im Tausch für etwas anderes zur Verfügung, sei dies in Form von Rechtsberatung, als Elektriker, Lehrerin oder als Ärztin, Pfleger und Apothekerin in einer der landesweit 51 Solidaritätskliniken. Wenn, dann leisten gerade diese Netzwerke einen essenziellen Beitrag an den Zusammenhalt der griechischen Gesellschaft. Und ebenso wichtig: Sie geben den Menschen die würdevolle Gewissheit, dass sie ihr Schicksal nicht ganz aus der Hand gegeben haben und nicht zum blossen Spielball der internationalen Politik geworden sind.
Andrea Leitner
Du sollst nicht töten, Europa (P.S. 16. Oktober 2015)
Interview mit der Aerztin Vasiliki Vasileiou von der Omonia-Klinik Athen (work 2. Oktober 2015)