Wir haben dich schon einmal fürs Info Interviewt und tun es wieder, weil das Thema der Rechte und Freiheiten der LGBT (lesbian gay bisexual transgender) Gemeinschaft und der Toleranz dafür eine Sache sind, um die es sich dringend zu kümmern gilt, weil wir darin in der Schweiz sehr rückständig sind. Was denkst du, woran das liegt?
Generell ist die Schweiz sehr langsam bei der Übernahme und Umsetzung von zivilen und sozialen Rechten. Wir sind in dieser Hinsicht ein sehr konservatives Land. Wenn man sich daran erinnert, wie spät und unter welchem Zwang die Schweiz die Frage des Frauenstimmrechts gelöst hat, so erstaunt es nicht, dass sich die breite helvetische Öffentlichkeit bis vor nicht allzu langer Zeit unwillig zeigte, sich mit der Situation von homo- und bisexuellen Menschen bzw. von Transpersonen auseinanderzusetzen. Es ist zum Beispiel noch nicht lange her, dass diese Minderheiten, zum Beispiel im Fernsehen, als pathologische Aussenseiter gezeigt wurden. An klischierten Figuren wie der wahnsinnig effeminierte Schwule, der schweigsamen unattraktiven Lesbe oder der oberflächlichen, sich prostituierenden Transfrau konnten sich Herr und Frau Schweizer sattsehen, um sich ihrer eigenen Normalität und Gesundheit bewusst werden zu können. Dieser diffamatorischen Darstellung des „Andersseins“ bedient sich die Mehrheit immer wieder gerne. Man denke nur an den bürgerlichen Umgang mit dem Bild der ausländischen Bevölkerung…
Aber muss die Schweiz in die Rückständigkeit verharren?
Nein. Gesellschaften reagieren nicht immer logisch oder konsequent und können auch tradierte Sichtweisen revidieren. Diese Sichtänderung erfolgt gelegentlich auch sprunghaft. Wie zum Beispiel Spanien oder Irland, zwei sehr katholische Länder, die 2008 bzw. 2015 den Ehebegriff auch für die LGBT Gemeinschaft geöffnet haben. Die wenigsten hätten im Vorfeld gedacht, dass sich gerade an diesen Orten der Wandel der Zeit zeigt, doch manchmal kommen in kürzester Zeit derart viele Wassertropfen zusammen, dass das Glas zum Überlaufen gebracht wird. Andererseits scheitert der Fortschritt oft auch nicht am bösen Willen, sondern aus Ungeschick. Zum Beispiel hat die SP im Nationalrat eine Parlamentarische Initiative eingereicht zur Ausweitung des Straftatbestandes der Rassendiskriminierung auf sexuelle Orientierung, um insbesondere Hassreden gegen Homo- und Bisexuelle zu pönalisieren. Dasselbe Recht für Transmenschen durch explizite Erwähnung von Geschlechtsidentität einzufordern ging bei dieser Aktion vergessen. Das geschah vermutlich aus Unwissen – oder was schlimmer wäre – aus Nachlässigkeit. Letztere wäre aber umso unverständlicher, erleben Transmenschen massiv mehr Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung als Homo- und Bisexuelle.
Du bist Psychiater und befasst dich vor allem mit psychosomatischer Medizin. Was heisst das und was hat dein Beruf mit deinem politischen Engagement zu tun?
Psychosomatische Medizin befasst sich mit denjenigen psychischen Zustände, die sich unter anderem auch stark auf den Körper auswirken. Das können beispielsweise Schmerzzustände, Schlafstörungen oder sexuelle Probleme sein. An meiner Stelle am Universitätsspital Basel begleite ich Personen, die sich auf dem Weg zu einer Geschlechtsanpassung befinden.
Bekommen eigentlich auch Leute, die einfach eine Schönheitsoperation machen wollen erst einmal einen Psychiater oder gilt das nur für Leute, die eine Geschlechtsumwandlung machen wollen?
Es heisst Geschlechtsanpassung. Weil es darum geht, den Körper auf die bereits bestehende Geschlechtsidentität anzupassen. Immer wieder wird behauptet, Transpersonen würden ihr Geschlecht verändern oder gar selbst wählen. Das stimmt nicht. Im Rahmen einer Transition verändern Menschen ihren Körper, damit sie sich darin besser fühlen und vor allem, damit Andere sie auf eine korrekte Art und Weise wahrnehmen und ansprechen können. Aber zurück zur Schönheitschirurgie: Nein, das ist nicht der Fall. Wenn sich zum Beispiel eine Frau die Brüste vergrössern lassen will, braucht sie dazu keine psychiatrische Voruntersuchung. Dafür muss sie alles selber zahlen. Für die Geschlechtsanpassung hingegen muss man erst durch einen Prozess von Vorabklärungen gehen. Dafür wird dann alles von der Versicherung bezahlt. Was auch zeigt, dass das Phänomen Trans in diesem System nach wie vor pathologisiert wird, während Schönheitsoperationen bagatellisiert und gehandhabt werden wie Piercings oder Tatoos.
Wie beeinflussen die Geschlechterrollen, die in der Welt des heterosexuellen Mainstreams gelebt werden, die LGBT Gesellschaft und umgekehrt?
Grundsätzlich leben wir alle in derselben Geschlechterordnung, welche uns Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und sexuelle Vorstellungen auf unbewusste Art und Weise einprägt. Judith Butler spricht hier von der heteronormativen Matrix, in welcher das Heterosexuelle und die Cis-Identität (Bezeichnung für Leute, die ihr Geschlecht im Lauf ihres Lebens beibehalten) als „Normales“ daher kommen, während alles andere als „deviant“, „pathologisch“ oder sogar „pervers“ erscheint. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass viele Transmenschen einen vollständigen Angleichungsprozess und nicht nur einfach einzelne medizinische Interventionen durchführen wollen. Es ist schon unglaublich schwierig, als Transmensch in der Gesellschaft zu bestehen, aber wenn man sich dann auch noch entscheidet, sich nicht völlig klar dem einen oder anderen Geschlecht zuzuordnen, sind die sozialen Probleme, die sich stellen überwältigend.
Wie wirkt sich denn die Matrix auf Menschen aus, die nicht LGBT sind?
Die Geschlechterfrage ist, auch wenn manche Bürgerliche das anders sehen wollen, alles Andere als gelöst. Frauen sind in unserer Gesellschaft nach wie vor an vielen Orten benachteiligt. Doch auch die klassische Rolle des heterosexuellen Mannes ist nicht befreit von diesem Einfluss. Sie ist in vielen Bereichen ausserordentlich eng, wenn nicht gar „blockartig“ definiert. Das versetzt den bisher unhinterfragten heterosexuellen Mann in eine ausserordentlich unbequeme Position. Denn in eine Gesellschaft, welche sich durch Flexibilität und permanente (Selbst-)Verfügbarkeit definiert, kommen Personen, welche sich dadurch definieren ja nicht „zu weiblich“, „zu schwul“, „zu trans“ zu sein, schlichtweg unter sozialen Stress. Sie können unmöglich diese Inkongruenzen mit ihrem Selbstbild des Mannes „aus einem Guss“ unter einem Hut bringen.
Gibt es dazu eine Lösung aus deiner Sicht?
Das Geschlechtersystem ist eines der ältesten und effizientesten sozialen Konstrukte, welche wir in unserer Gesellschaft kennen. In diesem Sinne gibt es – zumindest zurzeit – kein Entrinnen davon. Wir könnten vielleicht aber beginnen zu akzeptieren, dass es nicht einfach zwei Geschlechter, gibt, sondern vieles dazwischen. Dass Sexualität immer mehr als nur Geschlechtsverkehr und Reproduktion bedeutet. Und dass wir insbesondere auch sozial beeinflusst sind, was eine permanente Auseinandersetzung mit diesen Themen notwendig macht.
Welche Organisationen der Bewegung sind dir wichtig?
Pink Cross, der Verband schwuler und bisexueller Männer, finde ich persönlich einen sehr wichtigen Partner. Er ist sehr gut mit dem Lesbendachverband der Schweiz (LOS) und dem Transgender Network Switzerland (TGNS) verlinkt. Momentan versuchen alle diese Organisationen beispielsweise ein medizinisches Netzwerk für LGBT Personen auf die Beine zu stellen. Das ist besonders wichtig, da viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der Medizin kein LGBT spezifisches Wissen besitzen und spezifische Fragen dieser Gruppe, z.B. hinsichtlich Transition, assistierte Reproduktion oder übertragbare Geschlechtserkrankungen, schlichtweg nicht beantworten können. Das ist eine strukturell gewollte Unterversorgung dieser Personen in unserem Land, welche momentan durch diese Organisationen akut beheben wollen. Mittel- bis langfristig muss die Politik, sprich die AL, dafür kämpfen, dass diese „Andersbehandlung der anderen“, sprich diese Diskriminierung aufhört.
Interview aus AL Info 15/05