Vorverurteilung via BLICK
Am 7. September hat die Luzerner Polizei auf ihrer Homepage 21 Fotos von mutmasslichen „Fussballrandalierern“ publiziert. Vor zwei Jahren habe ich als juristische Praktikantin an einem Strafprozessfall gegen 17 mutmassliche „Fussballrowdys“ mitgearbeitet. 2010 hatte die Polizei per Internet-Fahndung ihre Bilder ins Netz gestellt und BLICK am Abend alle Fotos prominent veröffentlicht. Am Prozesstag erfuhr ich, was das bei den Angeklagten ausgelöst hatte. Egal, wie das Strafverfahren schliesslich ausging: vom Tag an, als ihre Bilder im lila-BLICK prominent publiziert wurden, waren sie vorverurteilt. Einige von ihnen wurden wie beantragt verurteilt, andere teils oder ganz freigesprochen. Bis zum Freispruch dauerte es aber drei Jahre; während dieser ganzen Zeit galten sie in ihrem Umfeld als Straftäter. Für Aussenstehende blieben sie für immer Kriminelle. Was ein Internet-Pranger für die Person hinter dem Foto bedeutet, realisiert kaum jemand. Die Frage der Verhältnismäßigkeit wird immer wieder in den Hintergrund gerückt. Rechtfertigt ein mutmassliches Verbrechen, ja ein blosses Vergehen wirklich die medialen und persönlichen Kollateralschäden bei all den Gesuchten? Meiner Meinung nach klar nicht. Der gestrige Anlass hat mich angespornt, ein wenig genauer hinter die Kulissen der Internetfahndung zu schauen.
Neue StPO: Hemmschwelle für Internet-Fahndung fällt
Seit gut zehn Jahren kennt man in der Schweiz die strafprozessuale Täterfahndung über das Internet. Nach Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Evian veröffentlichten die Genfer Behörden 2003 erstmals Fotos von unbekannten, mutmasslichen Tätern im Internet, mit dem Aufruf an die Bevölkerung, bei der Identifizierung mitzuhelfen. Seit der Einführung der schweizerischen StPO setzt auch der Kanton Zürich die Internetfahndung vermehrt ein. So wurden im Juli 2011 erstmals Bilder von mutmasslichen Teilnehmern der 1. Mai-Nachdemo im Internet veröffentlicht. Vorher war in Zürich die Internetfahndung nur bei schweren Verbrechen möglich, Landfriedensbruch z.B. gehörte nicht dazu.
Nur als ultima ratio
Jede Internetfahndung greift erheblich in die Rechte der auf den Bildern identifizierbaren Personen ein. Das enorme Interesse daran führte regelmässig zu einer prominenten Berichterstattung und einer entsprechend grossen Verbreitung der publizierten Bilder. Wegen der im Vergleich zu anderen Fahndungsmassnahmen wesentlich gravierenderen gesellschaftlichen Konsequenzen und der unkontrollierbaren Verbreitung des Bildmaterials kann die Internetfahndung höchstens als ultima ratio in Frage kommen. Aber tut sie das wirklich oder wird sie aus reiner Bequemlichkeit angeordnet? Sind vorgängig alle milderen Massnahmen wie Zeugenaufruf, behördeninterne Verbreitung des Bildmaterials und Vorlage an einen beschränkten Personenkreis (z.B. Personen aus der Gegend, Fanarbeiter, Stadionbetreiber usw.) ausgeschöpft worden? Zwar wird die Internetfahndung immer wieder öffentlich kritisiert, aber eigentlich wissen wir sehr wenig darüber und über die Kriterien für ihre Anwendung. Grund genug für die AL-Fraktion, im Kantonsrat dazu eine schriftliche Anfrage einzureichen.
Meh Pfupf Nr. 5: Wenn der Staat Menschen an den Pranger stellt (PDF)