Die Vorgeschichte: Kulturbesetzung statt Occasionsauto-Abstellplatz
Am 31. März 2011 erwirbt die Mobimo von Fredy Schönholzer für 33.92 Millionen Franken das Labitzke-Areal (AL 8299). Bis ein ausführungsreifes Bauprojekt entwickelt ist, plant die Mobimo als Zwischennutzung im leerstehenden hohlstrassenseitigen Arealteil (Hohlstrasse 481/485) den Abbruch der Gebäude und einen Abstellplatz für Occasionsautos. Ende September 2011 wird dieser Arealteil als „Autonomer Beauty Salon“ (ABS) besetzt (in Anlehnung an den gegenüberliegenden „Auto Beauty Salon“). Am 31. Oktober 2011 teilt die Mobimo den Besetzern per Mail mit, dass „wir die notwendigen Grundlagen für einen Abbruch der Gebäude erwirkt und uns entschieden haben, die Gebäude abzureißen. Als Abbruchtermin sehen wir Ende Januar 2012 vor.“ Zähneknirschend verzichtet die Mobimo schliesslich auf ihre Pläne und toleriert die ABS-Besetzung.
Mobimo kassiert 1.2 Millionen Franken Miete
In den beiden Labitzke-Gebäuden an der Albulastrasse bestehen reguläre Mietverträge, die interessierten Mietparteien erhalten von der Mobimo befristete Verträge bis zum Abbruch resp. bis zum 31. Dezember 2013. Für 2012 vermerkt der Mobimo-Geschäftsbericht Soll-Mietzinseinnahmen von 1.209 Millionen Franken und einen Leerstand von 11.9%; für 2013 weist der Geschäftsbericht keine Daten mehr aus.
2013 erwirbt die Mobimo zusätzlich das angrenzende Areal AL 8298 der Firma Hostettler Spezialzucker, die im September 2013 in ihren Neubau nach Lenzburg zügelt. Am 25. Juni 2013 geht das Büro Gigon/Guyer (Ersteller des Prime Tower) als Sieger aus einem Studienauftrag für die Neuüberbauung hervor; vorgesehen sind acht Wohngebäude, darunter zwei Hochhäuser.
Schattenboxen um die Abbruchbewilligung…
Über die Abbruchbewilligung und die Altlastensanierung ist viel Ungenaues geschrieben worden. Immer wieder ist die Rede von einer „rechtskräftigen Abbruchbewilligung“. Tatsache ist Folgendes: Ausser in Kernzonen und bei Liegenschaften im Inventar der schützenswerten Bauten ist für den Abbruch eines Gebäudes keine Bewilligung erforderlich, eine Meldung an die Baubehörde genügt (Planungs- und Baugesetz (PBG) § 327 Abs. 1). Bewilligungspflichtig ist dagegen ein Aushub, wenn die Geländeveränderung 1m Höhe oder 500 m2 Arealfläche überschreitet (Bauverfahrensverordnung §1 lit. d). Der stadträtlichen Petitionsantwort vom 18. Juni 2014 ist zu entnehmen, dass „die städtische Baubehörde“ (ob Bausektion, Amt für Baubewilligungen oder Kreisarchitekt ist unklar) der Mobimo am 16. September 2013 für das Areal AL 8299 und am 3. April 2014 für das Areal AL 8298 schriftlich mitgeteilt hat, dass einem Abbruch nichts entgegenstehe. Soviel zum Thema „rechtskräftige Abbruchbewilligung“.
…und die Altlastensanierung
Da beide Areale (AL 8298 und AL 8299) im Altlasten-Kataster verzeichnet sind, verweist die städtische Baubehörde die Mobimo routinemässig auf die Verpflichtung, für den Abbruch auch die Zustimmung des zuständigen kantonalen Amts für Gewässerschutz (AWEL) einzuholen, die kurz darauf ebenfalls erteilt wird. Der Eintrag im Kataster enthält für beide Areale folgenden Vermerk: „Der Standort wurde von der Behörde als belastet, aber weder überwachungs- noch sanierungsbedürftig beurteilt.“ (dies im Gegensatz etwa zum Binz-Areal) Die letzte im Kataster ausgewiesene Untersuchung datiert vom 8.2.2013. Den Eintrag im Kataster verdanken die beiden Parzellen, der Tatsache, dass sie zur Grube „Unter Herdern“ gehören, einer wiederaufgefüllten Materialentnahmestelle. Anlässlich des Kaufs der Nachbarparzellen AL818, AL819 und AL 2594 hielt der Stadtrat in Weisung GR 2010/351 fest: „Die Untersuchungen zeigen auf, dass es sich beim verwendeten Auffüllmaterial grösstenteils um chemisch unverschmutztes bis schwach belastetes Material handelt.“ Dadurch entstünden „abfallbedingte Mehrkosten, da der Aushub getrennt und fachgerecht entsorgt werden muss“. Das AWEL dürfte die Mobimo routinemässig auf diese einzuhaltenden Bedingungen bei Abbruch und Aushub hingewiesen haben. Mehr nicht. Im Klartext: von einer behördlich angeordneten „Altlastensanierung“ kann also nicht die Rede sein. Schon gar nicht davon, dass diese vor Inangriffnahme des Bauvorhabens separat erfolgen müsse.
Mieter erzwingen Verschiebung des Abbruchs
Ursprünglich will die Mobimo Anfang Januar nach Auslaufen der befristeten Mietverträge mit dem Abbruch beginnen. Im Dezember 2013 muss sie jedoch zwei Mietparteien vor Schlichtungsbehörde eine zweimonatige Erstreckung zugestehen. Auch der zweite Räumungs- und Abbruchtermin von Ende März erweist sich als unmöglich, da eine weitere Mietpartei die Gültigkeit der Kündigung bestreitet. Ende Mai einigen sich die Parteien auf 31. Juli 2014 als definitiven Auszugstermin.
2. Juni 2014: Einreichung des Baugesuchs…
Wie im Schlichtungsverfahren in Aussicht gestellt, reicht die Mobimo am 2. Juni 2014 ihr Baugesuch ein. Gemäss einschlägiger Vorschriften dauert die anschliessende Vorprüfung drei Wochen, spätestens bis dann muss das Bauprojekt ausgesteckt sein, damit es publiziert werden kann. Bis heute ist weder eine Aussteckung noch eine Ausschreibung erfolgt.
…kompliziert die Situation
Baurechtlich ergibt sich mit der Einreichung des Baugesuchs aber eine weitere Komplikation. § 322 PBG hält nämlich fest, dass der Aushub resp., soweit erforderlich, der Abbruch bestehender Gebäude rechtlich als Baubeginn für das Neubauvorhaben gilt. Gemäss § 326 PBG darf mit dem Neubauvorhaben erst begonnen werden, wenn alle nötigen baurechtlichen Bewilligungen rechtskräftig erteilt und alle auf Baubeginn gestellten Nebenbedingungen erfüllt sind – ausgenommen, es liegt eine schriftliche Erlaubnis der zuständigen Behörden vor. Praktisch bedeutet das, dass der Gesuchsteller die vorhandenen Bauten nicht mehr abbrechen darf, sobald ein Baubewilligungsverfahren eingeleitet worden ist.
Ob die städtische Baubehörde (Bausektion, Amt für Baubewilligungen oder Kreisarchitekt) nach dem 2. Juni 2014 eine solche Erlaubnis erteilt hat, ist unklar. Klar ist jedoch, dass sich das Hochbaudepartement und mit ihm – wie aus der Petitionsantwort vom 18. Juni 2014 hervorgeht – auch der Gesamtstadtrat auf den Standpunkt stellen, mit den städtischen Zuschriften vom 16. September 2013 und 3. April 2014 verfüge die Mobimo über einen Rechtstitel für den Abbruch der Gebäude.
Das praktische Problem der Baugespanne
In den letzten Jahren hat sich auf Seiten der Besetzer ein Konsens entwickelt, dass nicht an der Besetzung von Liegenschaften festgehalten wird, sobald eine rechtskräftige Baubewilligung vorliegt und das Neubauprojekt effektiv anhand genommen wird. Das entspricht auch der stadträtlichen Doktrin, polizeiliche Räumungen erst auf diesen Zeitpunkt vorzunehmen, um Brachen zu verhindern.
Damit ergibt sich ein praktisches Problem. Um diese Rahmenbedingung zu erfüllen, muss zwingend zuerst das ordentliche Bewilligungsverfahren durchgeführt werden können. Das beinhaltet namentlich das Aufstellen der Baugespanne. Im Fall des Gigon/Guyer-Projekts auf dem Labitzke-Areal heisst das die Montage von Profilstangen von teilweise mehr als 60 m Höhe. Interessanterweise wurde diese Problematik nie öffentlich erörtert. Für die Mobimo war offenbar von Anfang klar, dass sie die Profilstangen erst nach dem Abbruch der bestehenden Gebäude aufstellen würde. Einerseits ist das technisch einfacher, anderseits war die Mobimo nie bereit, über diese Frage das Gespräch mit den Besetzern zu suchen. Auch von Seiten der stadträtlichen Task-Force wurde diese Grundsatzposition anscheinend nie hinterfragt. Ob ein Deal mit den Besetzern möglich gewesen wäre, ist damit offen geblieben. Knifflig wäre sicher die Aussteckung des geplanten Hochhauses an der Hohlstrasse gewesen, das mitten im Bereich der Bar und des Innenhofs des Autonomen Beauty-Salons geplant ist.
Stadtrat steckt den Rahmen ab
Das Merkblatt der Stadtpolizei in der Fassung vom 26. September 2012 nennt als Voraussetzung für eine Räumung besetzter Liegenschaften: „Eine rechtskräftige Abbruchbewilligung oder eine rechtskräftige Baubewilligung inkl. Baufreigabe liegt vor. Die unverzügliche Aufnahme der Abbruch-/Bauarbeiten muss belegt werden.“ Mit der auf Antrag des Vorstehers des Hochbaudepartements verabschiedeten Petitionsantwort vom 18. Juni hat der Stadtrat festgehalten, dass die Mobimo über die Zustimmung von Stadt und Kanton zum Gebäudeabbruch verfügt und damit die rechtlichen Voraussetzungen für eine Räumung erfüllt sind. Damit war auch der Handlungsrahmen für AL-Polizeivorsteher Richard Wolff abgesteckt. Das Fazit: dem Wortlaut des Besetzer-Merkblatts wurde formell Rechnung getragen, trotzdem wird eine Brache entstehen. Das Paradox: es wurde viel von der angeblichen Altlastensanierung geredet und nie vom eigentlichen Problem der Baugespanne. So blind kann Politik manchmal sein.
P.S. Einigen mögen diese Ausführungen langfädig und technisch vorkommen. Ich halte es mit Max Weber: “Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.” Oder mit Hans-Magnus Enzensberger: „Lies keine Oden mein Sohn, lies die Fahrpläne, sie sind genauer“.
Labitzke-Nachlese 3: Anatomie eines vorzeitigen Abbruchs
Ueber die Labitzke, die Mieter und Besetzer, die Hintergründe der Räumung, bevor überhaupt eine Baubewilligung erteilt worden ist, haben die Medien viel, aber oft ungenau berichtet. Nachstehend versucht Niggi Scherr, anhand der öffentlich zugänglichen Informationen die Anatomie dieses vorzeitigen Abbruchs nachzuzeichnen.