Nach der Labitzke-Räumung kocht es in der Agglo-Volksseele in den Online-Foren von BLICK, 20 Minuten und Tagesanzeiger. Auch Immernoch-Sozialdemokrat Stefan Hohler, der im Tagi online mit unverhohlenem Stolz als Polizeireporter firmiert, kann sich nicht einkriegen. Gerne wüsste er auf Franken und Rappen genau, was den gebeutelten Steuerzahler die Beseitigung der höchst fantasievollen Beton-Barrikade auf der Hohlstrasse und die gewaltfreie Räumung des Labitzke-Areals gekostet haben. Und da man es in der Online-Welt ja journalistisch eh nicht mehr so genau nimmt, setzt er gleich noch einen drauf. Dreist und völlig tatsachenwidrig behauptet er im Artikel „Besetzer hinterlassen Abfallberg“ zu den Entsorgungskosten: „Der Steuerzahler wird vermutlich auch hier zur Kasse gebeten“. Natürlich weiss jeder halbwegs Informierte, dass die Entsorgungskosten für alles – ob hinterlassene Reste von Mietern und Besetzern oder Bauschutt – beim Grundeigentümer, also bei der Mobimo, anfallen. Aber es kommt beim elektronischen Stammtisch natürlich gut an, wenn man suggeriert, auch hier werde die Allgemeinheit zur Kasse gebeten. Natürlich darf die andächtige Tagi-online-Lesergemeinde dank Hohlers 15 Original-Föteli auch einen voyeuristischen „Blick auf das Innenleben“ der Labitzke-Besetzung werfen. Der Polizeireporter bringt es auf den Punkt: „Der erste Eindruck: ein riesiger Abfallhaufen.“ Die geneigte Leserin merkt sogleich: wer soviel Müll herumliegen lässt, muss ja auch was Minderwertiges sein. Vom „junk“ zum „junkie“ ist ja nur ein Schritt…
Steuern als kollektive Versicherungsprämie
Die Anti-Besetzer-Front von Mauro Tuena bis Stefan Hohler fordert unisono: Die Besetzer sollen alle Kosten der Polizeieinsätze bezahlen! Da jetzt die Volksseele so laut danach ruft, ist dringend ein wenig Staatskunde erforderlich.
In seinem interessanten Büchlein „Der sanfte Verlust der Freiheit“ erläutert der konservative ehemalige deutsche Verfassungsrichter Paul Kirchhof, wofür wir – unter anderem – eigentlich Steuern bezahlen. Steuern sind sozusagen die kollektive Versicherungsprämie, die Bürgerinnen und Bürger entrichten, damit es einen Staat gibt, der Freiheit und Sicherheit der Bürger nach innen und aussen verteidigt und das private Eigentum und die Wirtschaftsfreiheit gewährleistet. Selbst für die extremsten, neoliberalsten Verfechter des Nachtwächterstaats gehört die Polizei zum Kerngehalt des Staats. Ihr Auftrag, die öffentliche Ordnung, die Sicherheit und den Schutz des privaten Eigentums zu gewährleisten, wird als staatlicher Grundbedarf, als service public, über die Steuern und nicht als eine Dienstleistung über benutzer- oder verursacherbezogene Kostenbeteiligungen finanziert.
Polizei als Teil des service public
Natürlich ist klar, dass jeder und jede, die geringfügig oder massiv gegen die geltende Rechtsordnung verstossen – ob Hausbesetzer, Bankräuber, Wirtschaftskrimineller etc. -, einen polizeilichen Aufwand generieren. Schliesslich ist die Polizei ja dafür da, mögliche Störungen der Rechtsordnung zu verhindern oder zu beseitigen und Störer der Justiz zur Bestrafung zuzuführen. Im Bereich der polizeilichen Aktion liegt der Fokus klar auf der Sicherung der Rechtsordnung, die als Grundbedarf kollektiv über Steuern finanziert wird. Anders präsentiert sich die Situation, sobald Personen, die gegen die Rechtsordnung verstossen haben, der Justiz überwiesen werden. Hier können ihnen je nach Ausgang des Verfahrens Untersuchungs- und Verfahrenskosten aufgebrummt werden.
Kostenüberwälzung als verdeckte Strafe
Diese klare Trennung muss unbedingt aufrechterhalten werden. Sobald wir situativ anfangen, bei einzelnen Rechtsverstössen den polizeilichen Beseitigungsaufwand in Rechnung zu stellen, kommen wir in Teufels Küche. Wenn die Polizei punktuell Kosten überwälzt, fällt sie damit faktisch Bussen oder Strafen aus und wird de facto zum Richter – eine Aufgabe, für die die Justiz zuständig ist. Und nach welchen Kriterien soll bestimmt werden, in welchen Fällen eine Kostenverrechnung erfolgt oder nicht? Sollen hier der Zeitgeist und der elektronische Stammtisch Entscheidungsgewalt bekommen?
Höhere Kosten für friedlichen Protest?
Ein kleines Gedankenspiel zum Schluss. Variante 1: Die Räumung eines besetzten Areals erfolgt von beiden Seiten unter Anwendung von Gewalt. Die Besetzer werfen Steine, die Polizei setzt Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer ein. Nach anderthalb Stunden ist die Aktion beendet. Es kommt nur zu wenigen Verhaftungen, weil die Besetzer sich rechtzeitig absetzen und die Polizei von ausserhalb angreifen. Variante 2: Die Besetzer leisten lediglich passiven Widerstand, verschanzen sich aber clever auf dem ganzen Areal. Sie stehen mit ihrer Person für ihr Anliegen ein, keiner von ihnen kann sich der Verhaftung entziehen. Die Polizeiaktion dauert fünf Stunden. Quizfrage an die Fans der Kostenüberwälzung: Sollen ausgerechnet Menschen, die gewaltfrei Widerstand leisten, mit einer höheren Kostennote belastet werden als die Steinewerfer?
Dammbruch bei der Zürcher Ausnüchterungsstelle ZAB?
Aktuellen Anschauungsunterricht bietet uns übrigens auch die am 20. August anstehende Gemeinderats-Debatte über die Zürcher Ausnüchterungs- und Beratungsstelle (ZAB). Wenn ich betrunken in die ZAB zwangseingewiesen werde, muss ich zwischen 450 und 600 Franken pro Nacht berappen. Wenn ich nüchtern jemand spitalreif zusammenschlage, kann ich dagegen eine Gratis-Nacht im Polizeigefängnis verbringen.
Mein Fazit ist klar: Strafen und Büssen gehören in die Hand der Richter, nicht der Polizei.
Mehr zum Thema im der Labitzke-Nachlese 2
Labitzke-Nachlese 1: Kostenüberwälzung von Polizeieinsätzen – ein staatspolitisches Unding
Niggi Scherr macht sich kritische Gedanken zur Forderung von Mauro Tuena, Stefan Hohler & Co, die Polizeikosten für die Räumung des Labitzke-Areals den Besetzern aufzubürden.