Ezgi Akyol ist 27 Jahre alt und bereits im Gemeinderat. Die Politikerin mit türkischen Wurzeln wehrt sich gegen rassistische Polizeikontrollen, will das Stimmrecht für Migranten und erklärt, wie man biedere Quartierzentren aufmischen könnte.
Ezgi Akyol, Sie sind seit Mai 2014 im Gemeinderat. Wussten Sie, was auf Sie zukommt?
Ja, weitgehend schon. Ich führte im Vorfeld schon Gespräche und man hat mich gut vorbereitet. Die Arbeit habe ich allerdings unterschätzt. Ich bin in zwei Kommissionen und habe deshalb relativ viel Arbeit.
In welchen Kommissionen arbeiten Sie?
Ich bin im Sozialdepartement (SD), da bin ich sehr zufrieden. Ich bin aber auch im Büro des Gemeinderates, wo die andern sehr erfahren sind. Das ist vielleicht ein Grund, warum ich ein bisschen überrumpelt bin, weil ich den Anspruch an mich habe, alles schon wissen und verstehen zu müssen. Ein Stress, den ich mir selber mache. Das Büro ist eigentlich nicht sehr spannend. Es ist vor allem administrative Arbeit und sehr viel Technisches, wo ich mich halt noch nicht so auskenne.
Und wie gefällt es Ihnen als Gemeinderätin (GR)?
Ich bin immer noch ein bisschen ambivalent gegenüber dem GR. Ich hatte vorher ausserparlamentarisch politisiert, beispielsweise in der Autonomen Schule (ASZ), wo ich Deutsch unterrichte. Parlamentarische Arbeit ist schon etwas ganz anderes. Ich bin noch etwas kritisch, aber bis jetzt finde ich es sehr lässig.
Was war der Grund für den Schritt ins Parlament?
Beim Ausserparlamentarischen stösst man schnell mal an Grenzen. Deshalb probiere ich es nun auf dem parlamentarischen Weg und schaue, wie weit ich komme. Nicht, wie weit ich persönlich komme, sondern inwiefern sich Dinge auf diesem Weg verändern lassen.
Haben Sie ein Beispiel, wo man ausserparlamentarisch auf Grenzen stösst?
In der ASZ ist man mit dem Alltag der Flüchtlinge konfrontiert. Dort kann man nur versuchen, mit den Menschen zusammen ihren Alltag so angenehm wie möglich zu gestalten. Daran kann ich auch im Gemeinderat nichts ändern. Um bei diesen Themen mitgestalten zu können, müsste ich auf Bundesebene politisieren.
Und haben Sie das vor?
Nein, ich glaube nicht. Ich visiere es zumindest nicht an. Die AOZ – die Asylorganisation Zürich – ist der Stadt unterstellt, diese wird im Sozialdepartement behandelt. Deshalb kann ich dort doch ein wenig mitgestalten, beispielsweise in Bezug auf die Unterbringungskonditionen von Flüchtlingen.
Soziale Fragen wie die Migration liegen Ihnen am Herzen. Haben Sie sonst noch andere Themen, die Ihnen wichtig sind?
Ich finde es wichtig, dass man das Quartierleben stärkt. Man sollte Gemeinschaftszentren ausbauen und die GZ’s weniger bieder machen. In diesem Bereich kann man im Sozialdepartement viel bewegen.
Was meinen Sie mit „weniger bieder“?
Gemeinschaftszentren sprechen nur gewisse Gruppen von Menschen an. Als ich noch klein war, ging ich oft mit meiner Mutter ins GZ Wipkingen. Aber heute würde ich persönlich nicht mehr hingehen. Ich finde es wichtig, dass die GZs allen Gruppen offen stehen und auch AusländerInnen sich willkommen fühlen, oder auch Jugendliche, Kinder und Familien. Die Nutzer der GZ’s sollten auch mehr Mitgestaltungsrechte haben. Im Moment dominieren vor allem Familien die GZs.
Hat das Thema Migration einen Zusammenhang mit Ihrer Herkunft?
Ich würde lügen, wenn ich nein sagen würde. Meine Eltern sind beide in die Schweiz eingewandert, ich bin Seconda, also hier geboren. Migration ist Teil meines Lebens.
Wie sind Sie politisiert worden?
Ich wurde durch meine Familie, durch die Geschichte meines Vaters politisiert, der ein politischer Flüchtling war. Politisiert wurde ich auch in der Autonomen Schule ASZ.
Welches Schicksal hat Ihr Vater erlitten?
Mein Vater war vor dem Militärputsch 1980 in der Türkei sehr aktiv. Er war Chefredaktor einer regierungskritischen Zeitung. Er wurde zum Tode verurteilt und ist in die Schweiz geflohen. Meine Mutter ist ihm dann nachgereist.
Wie alt waren Sie, als Sie der AL beitraten?
Das ist schwer zu sagen. Ich bin pro forma schon sehr lange Mitglied bei der AL, war auch immer wieder Listenfüllerin. Richtig aktiv bin ich aber erst seit die Gemeinderatsthematik aufgekommen ist. Ich war auch mal bei der JuLiA – Junge linke Alternative – aber alles mehr passiv als aktiv.
Man munkelt, dass die AL von „alten Männern“ dominiert ist.
Das war lange ein Bild der AL. Wir sind jetzt die einzige Fraktion, die mehr Frauen als Männer im Gemeinderat hat. Wir haben uns wirklich darauf konzentriert, dass junge Frauen kandidieren und in den Gemeinderat kommen. Darum glaube ich, dass es inzwischen ein überholtes Bild ist.
Wie sind Sie als junge Frau aufgenommen worden?
Ich bin immer sehr offen aufgenommen worden und ich hatte nie das Gefühl, dass ich etwas nicht sagen oder nicht fragen darf. Es ist überhaupt nicht paternalistisch. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich als junge Frau weniger zu sagen habe.
Wie stehen Sie zu feministischen Themen?
Ich finde es natürlich extrem wichtig und ich teile weitgehend die Anliegen der feministischen Bewegung. Wie beim Thema Migration erfülle ich das Klischee, aber nur weil ich eine Frau bin, muss ich mich nicht für Frauenthemen interessieren. Genauso wenig müsste ich mich als Migrantin für migrationspolitische Themen interessieren. Natürlich ist mir Gleichberechtigung ein Anliegen. Ich habe auch Simone de Beauvoir gelesen. Aber meine höchste Priorität sind migrationspolitische Fragen.
Ist es überhaupt noch nötig, für Gleichberechtigung zu kämpfen?
Selbstverständlich. Nur schon in Bezug auf die Tatsache, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Oder dass Positionen, die mit Macht behaftet sind, tendenziell immer von Männern besetzt sind. Da gibt es noch viel zu tun. Die AL hat ja gerade eine Initiative lanciert: Kinderbetreuung für alle. Eine kantonale Initiative.
Sie nerven sich über die Gentrifizierung der Stadt Zürich. Warum?
Im Kreis 4 und Zürich-West sieht man die Gentrifizierung sehr gut. Alles wird unter dem Schutzschirm „Aufwertung“ gestellt. Aber es bleibt immer die Frage: Für wen ist es denn eine Aufwertung? Warum ist es besser? Ich bin da kritisch eingestellt.
Und wie sehen Sie die Situation im Kreis 5?
In Zürich-West baut man Büroräume, teure Läden und schicke Bars, aber es geht vieles verloren. Es bräuchte mehr Schulhäuser oder mehr Begegnungspunkte, die nicht kommerziell sind. Beispielsweise ein Gemeinschaftszentrum für die Quartierbevölkerung. Ich habe das Gefühl, dass man durch die Gentrifizierung das Quartierleben einschränkt, oder unterdrückt. Das sieht man auch an der Langstrasse. Am Wochenende sind jetzt hauptsächlich Leute dort unterwegs, die nicht an der Langstrasse wohnen. Das ist auch in Ordnung, aber ein Teil der Quartierbevölkerung wird damit verdrängt.
Und wie würden Sie gegen diese Probleme vorgehen?
Man darf die Infrastruktur im Quartier nicht vergessen. Wenn man neue Wohnsiedlungen baut, muss auch ein Schulhaus und Freiräume für die Quartierbevölkerung eingeplant sein. Die Leute vom Quartier sollten mitbestimmen und mitgestalten können. Das sind Dinge, die man in Zürich-West unbedingt angehen muss.
Wie stehen Sie zu Verdichtung?
Ich finde Zürich ist schon eher dicht. Andererseits nimmt auch jede Person meiner Meinung nach viel zu viel Wohnraum in Anspruch. Ich bin nicht prinzipiell gegen Verdichtung. Aber es ist auch nicht das Mass aller Dinge. Ich wüsste nicht, wie man das Problem des Wohnungsmangels löst, ausser man schränkt den individuellen Wohnraum ein.
Wie würden Sie das machen?
Bei subventionierten Wohnungen ist es ja schon so. In einer Dreizimmerwohnung müssen mindestens zwei Personen wohnen. Ich weiss nicht, ob man das den Menschen oktroyieren könnte. Es wäre staatlich sehr repressiv. Das Bewusstsein der Menschen müsste sich ändern. Wie Leute von sich aus denken würden: „Hey, ich brauche doch gar nicht so viel Wohnraum“, kann ich nicht sagen. Wir müssten diese Entwicklung aber machen.
Was halten Sie vom Spruch: „Les extrèmes se touchent“, gerade in Bezug auf die Nähe von AL und SVP bei bestimmten Abstimmungen?
Das ist etwas, das der AL eigen ist. Wir stimmen manchmal mit der FDP oder mit der SVP zusammen, weil wir pragmatisch stimmen und nicht stur gewisse Linien verfolgen. Deshalb ergeben sich auch „unheilige Allianzen“. Die SVP hat bei der Zusatzkreditvergabe, u.a. für die Polizei, gesagt, sie sei die letzte Verbündete der AL. Die Beweggründe sind aber vermutlich diametral anders als die der bürgerlichen Parteien.
Sie möchten sich gegen rassistisch motivierte Polizeikontrollen einsetzen. Hat sich die Situation verbessert, seit Richard Wolff Polizeivorsteher ist?
Ich kann keine Anzeichen einer Verbesserung sehen. Das ist eines der Dinge, die ich angehen möchte. Dieses „racial profiling“, von dem man behauptet, dass es nicht stattfindet, findet de facto statt. Auch in Zürich-West ist es ein grosses Problem. Viele Kursteilnehmer von mir würden beispielsweise gerne an einem Dienstag ins Exil gehen. Sie trauen sich aber nicht, weil es extrem viele Polizeikontrollen hat. Auch wenn die Intention da ist, in der Praxis hat sich nichts geändert. Natürlich ist das auch ein gesellschaftlicher Prozess, der stattfinden muss und eine Änderung kann nicht von heute auf morgen erlangt werden.
Haben sich andere Sachen verbessert?
Richi Wolff hatte noch nicht so viel Zeit. Aber ich sehe, dass sich Dinge entwickeln. Auch mit der neuen Werbung der Stadtpolizei, wo man ja gezielt mehr Frauen und Leute mit Migrationshintergrund anwerben möchte. Es ist gut, dass wir über solche Sachen sprechen.
Wie nehmen Sie die gegenwärtige migrationspolitische Situation wahr?
Niggi Scherr hat sehr schön und treffend in seiner Eröffnungsrede der Legislatur im GR gesagt, dass der Kreis 4 ein Apartheidskreis ist, weil knapp die Hälfte der Bevölkerung nicht Stimm- und Wahlberechtigt ist. Die „Migrantenstimme“ ist eine Stimme, die auf der politischen Bühne nicht gehört wird. Ich finde solche Sachen müssten auf kommunaler Ebene schon lange umgesetzt sein.
Wie sieht es mit migrationspolitischen Initiativen auf Bundesebene aus?
Die Situation ist sehr schwierig. Auch für uns als Linke, weil wir die ganze Zeit nur in der Defensive sind und auf Initiativen reagieren müssen, die die SVP uns entgegenschleudert. So können wir keine neuen Vorschläge und Ideen bringen. Ich verstehe auch nicht, warum man sich darüber echauffiert, dass auf dem Duttweiler-Areal ein Bundeszentrum gebaut wird. Ich finde das deprimierend.
Wie sehen Sie die Zukunft in diesen politischen Themen?
Ich glaube nicht, dass es für Migrantinnen und Migranten in naher Zukunft besser werden wird. In Deutschland ist die Flüchtlingsbewegung sehr stark. Sie haben beispielsweise den Fernsehturm für kurze Zeit besetzt. Das sind Kräfte, die es bei uns in diesem Ausmass noch nicht gibt. Ich denke, die Flüchtlingsbewegung wird erstarken, weil die Politik immer repressiver ist.
Haben Sie einen Vorschlag, was zu tun wäre, um gegen diese Verschärfung vorzugehen?
Das Quartierleben aufleben lassen, beispielsweise in Form von Gemeinschaftszentren. Ich denke, das kann wirklich ein Begegnungsort sein für Familien mit Migrationshintergrund und Schweizer Familien. Man kann die Ängste der Leute nur nehmen, wenn man ihnen zeigt, dass Migranten auch Menschen sind. Das geht nur durch die direkte Begegnung. Interview als PDF
Die AL ist nicht paternalistisch!
Ezgi Akyol, seit Februar 2014 AL-Gemeinderätin im Wahlkreis 4/5, im Gespräch mit westnetz.ch zu Parlamentarismus, Migration, Feminismus und alte Männer in der AL Zürich.