Wie oft sind mir in den vergangenen Wochen beim Lesen und Hören der Argumente für und gegen die SVP-Initiative «Gegen Masseneinwanderung» diese Worte von Max Frisch durch den Kopf gegangen. Einmal mehr sind Menschen keine Menschen mehr, sondern Nummern, Zahlen, Kontingente, und werden zudem für alle möglichen Probleme verantwortlich gemacht: zu wenig Platz in den öffentlichen Verkehrsmitteln, Staus auf den Strassen, exzessiver Kulturlandverlust, steigende Wohnungsmieten.
In den vergangenen 20 Jahren hat die Schweiz einen richtigen Wirtschafts- und Reichtumsaufschwung erlebt. Die Kantone haben einen absurden Steuerwettbewerb in Gang gesetzt, um Unternehmen in die Schweiz zu locken.
Unzählige Unternehmen, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, liessen sich dieses Angebot nicht entgehen und haben ihren Firmensitz in die Schweiz verlegt. Hier profitieren sie von tiefen Steuern, einer gut ausgebauten Infrastruktur, sicheren Verhältnissen.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Schweiz profitiert. Die Wirtschaft floriert, der Konsum brummt, das Gesundheitswesen wird laufend luxuriös veredelt und es wird ohne Ende gebaut: Häuser, Strassen und Infrastrukturen für den öffentlichen Verkehr. Fast alle, einige Wenige mehr und viele Andere weniger, profitieren in irgendeiner Form von diesem Aufschwung.
Mit der SVP-Initiative sollen nun jene Menschen abgestraft werden, die als Arbeitskräfte ins Land gekommen sind und zum Aufschwung beigetragen haben. Sie arbeiten in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in den Fabriken, in Dienstleistungsunternehmen, in der Gastronomie, im Gesundheitswesen, im Bankenwesen und im Detailhandel. Die SVP-Initiative löst keine Probleme. Sie trägt dazu bei, dass sich die Schweiz zu einem Apartheid-Staat entwickelt, wie es die Co-Präsidentin der Gewerkschaft Unia, Vania Alleva, pointiert auf den Punkt gebracht hat. Einzig der Schweizer Pass bestimmt, wer zum Herrenvolk gehört.
Bei Annahme der SVP-Initiative werden die Abkommen mit der EU obsolet, steht die Personenfreizügigkeit auf dem Spiel. Damit stehen aber auch die bilateralen Verträge und die flankierenden Massnahmen auf dem Spiel. Die flankierenden Massnahmen bieten Schutz vor wildgewordenen Arbeitgebern und verhindern, dass die Löhne der Arbeitnehmenden gedrückt und die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden.
Statt die Einwanderung zu beschränken, wäre es sinnvoller, die flankierenden Massnahmen weiter auszubauen und zu verstärken. Konkret: die Gesamtarbeitsverträge auszubauen und gesetzliche Mindestlöhne einzuführen.
Ich bitte euch, sagt Nein zur Initiative «Gegen Masseneinwanderung».
Kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr
Vor bald 50 Jahren hat der Zürcher Schriftsteller Max Frisch in einem Vorwort zum Buch von Alexander J. Seiler «Siamo italiani – Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz» folgende Worte geschrieben: «Kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich. Aber sie sind da.»