Sehr tiefe Stimmbeteiligung…
Zunächst eine Bemerkung zum Mythos der diesmal ausserordentlich tiefen Stimmbeteiligung. Diese ist unstreitig extrem tief. Am ersten Wahlgang beteiligten sich 76‘353 Stimmberechtigte oder 34.65%, am zweiten noch 62‘468 oder 28.33%. Diese Zahlen relativieren sich allerdings etwas, wenn man die leeren und ungültigen Zettel berücksichtigt: Im ersten Wahlgang waren es 14‘806, im zweiten nur noch 5‘788; der Rest der Leereinlegenden vom 3. März nahm am 21. April wohl gar nicht mehr teil. Nimmt man nur die Zahl der effektiv abgegebenen Stimmen (ohne leere und ungültige), ist der Rückgang vom ersten zum zweiten Wahlgang weniger markant: von 61‘547 auf 56‘680 oder von 27.9% auf 25.7%.
…bei Wahlen nicht ungewöhnlich
Aber: bei Wahlen ist die Stimmbeteiligung regelmässig viel tiefer als bei Abstimmungen. Der/die direktdemokratische Stimmbürger/-in ist bei Wahlgängen deutlich zurückhaltender, weil er/sie da unkontrolliert Macht für mehrere Jahr abtritt, während bei Abstimmungen über Referendum und Initiative jederzeit wieder korrigierend eingegriffen werden kann.
Dazu drei Beispiele:
- Am 12. Februar 2006 fanden die Stadtzürcher Gemeinde- und Stadtratswahlen ohne eine gleichzeitige eidgenössische Abstimmung statt. Entsprechend tief war die Beteiligung mit 75‘519 oder 35.7% bei den Stadtratswahlen.
- Bei den Gesamterneuerungswahlen vom 7. März 2010 kam gleichzeitig das Referendum gegen den Rentenklau zur Abstimmung. An dieser Abstimmung nahmen 101‘170 Stimmberechtigte teil; gleichzeitig wurden jedoch – inkl. leere Zettel – nur 81‘400 Stimmzettel (37.3%) für die Stadtratswahlen abgegeben.
- Erfahrungsgemäss rekordtief ist die Beteiligung bei zweiten Wahlgängen ohne gleichzeitige eidgenössische oder kantonale Abstimmung. Im zweiten Wahlgang vom 5. Mai 2002 gaben 74‘923 Stimmbürgerinnen und Stimmbürger einen Zettel ab, die gültigen Stimmen (ohne leere und ungültige) betrugen jedoch bloss 60‘371 oder 30.8% der Stimmberechtigten. Andres Türler wurde damals mit 25‘060 Stimmen gewählt – das sind 2‘500 weniger als Richard Wolff am 21. April erhalten hat.
In welchen Stadtkreisen hat Wolff den Sieg geholt?
Gesamtstädtisch holt Richard Wolff genau einen Viertel mehr Stimmen (25%) als im ersten Durchgang. Erwartungsgemäss am wenigsten zulegen kann er in den vier Stadtkreisen, wo er schon im ersten Wahlgang am meisten Wählende gewinnen konnte: Kreis 4+5 (+14%), Kreis 10 (+20%) sowie Kreise 3 und 6 (je +21%). Im städtischen Durchschnitt liegt der Zuwachs in den beiden FDP-Hochburgen 1+2 (+26%) und 7+8 (+27%). Deutlich am meisten legt Richard Wolff ausgerechnet in den drei SVP-Hochburgen Kreis 12(+30%) sowie 9 und 11 (je + 39%) zu.
Marco Camin verbessert sich im zweiten Durchgang gesamtstädtisch um 11% Bei den kreisweisen Ergebnissen ist jedoch kein ähnlich deutliches Muster zu erkennen wie bei Wolff: am meisten legt Camin im Kreis 12 (+18%) sowie den Kreisen 3 und 4+5 (je + 17%) zu, am wenigsten im Kreis 11 (+7%).
Wo gingen die GLP-Stimmen des ersten Wahlgangs hin?
Geht man von der statischen Annahme aus, dass am 21. April die gleichen Personen wählen gehen wie am 3. März, alle Wolff- und Camin-Wählenden des ersten Wahlgangs wieder gleich stimmen und sich lediglich die Stimmen für den GLP-Kandidaten Hodel neu verteilen, so ergibt sich folgendes theoretisches Bild:
- Richard Wolff holt 45% der „Hodel-Stimmen“
- Marco Camin holt 22% der „Hodel-Stimmen“
- 33% der „Hodel-Wählenden“ nehmen nicht teil oder legen leer ein.
Das Verhältnis 45% zu 22% der Hodel-Stimmen für Wolff resp. Camin bildet zunächst im wesentlichen die Proportionen beim gesamtstädtischen Zuwachs der beiden Kandidaten (+25% resp. + 11%) ab. Aus den kreisweisen Ergebnissen ergibt sich kein klar erkennbares Muster: über 50% „Hodel-Wähler“ verzeichnet Wolff in den Kreisen 4+5 (58%), 11 (52%) sowie 3 und 9 (je 50%).
Kritische Überlegungen zur GLP-These von Kyriacou
Andreas Kyriacou sieht in seiner Analyse dagegen eine signifikante Korrelation zwischen den kreisweisen Wahlergebnissen von Hodel im ersten Wahlgang und den jeweiligen Zugewinnen von Wolff und Camin: je mehr Hodel-Stimmen am 3. März, desto mehr Stimmen legen Wolff und Camin in der Proportion 45/22 zu. Allerdings kann dieser Anschein auch trügen. Hodel erzielte nämlich am 3. März in allen Kreisen ein relativ homogenes Ergebnis mit Wähleranteilen, die nur schwach zwischen 18.9% (Kreis 3) und 22.3% (Kreis 11) schwanken, mit einem einzigen Ausreisser im Kreis 4+5 (14.3%). Damit bilden sein Wähleranteil resp. seine absoluten Wählerzahlen automatisch auch relativ genau die absolute Grösse der Wahlkreise und die zwischen den einzelnen Kreisen stark schwankende Stimmbeteiligung ab:
- die Beteiligung (abgegebene Stimmen ohne leere) schwankte am 3. März zwischen 17.5% im Kreis 12 und 36.1% im Kreis 7+8 resp. 16.4% und 32.7% am 21. April in den gleichen Wahlkreisen;
- das Verhältnis zwischen dem kleinsten und dem grössten Wahlkreis (Kreis 12 resp. Kreis 11) beträgt 1:2.47;
- aufgrund der stark unterschiedlichen Stimmbeteiligung noch weiter auseinander lag die Spannweite der abgegebenen Stimmen am 21. April – zwischen 2‘355 (Kreis 12) und 9‘927 (Kreis 7+8) und damit im Verhältnis 1:4.25.
So gesehen, kann die von Kyriacou festgestellte kreisweise Korrelation, die durchaus vorhanden ist, nicht auf den Wähleranteil von Hodel, sondern genausogut auf die unterschiedliche Grösse der Wahlkreise und resp. Höhe der Stimmbeteiligung zurückzuführen sein.
Tabelle mit allen Detailzahlen (PDF)
Analyse von Andreas Kyriacou