ZWISCHENRUFE
Grabrede
Urs Bühler
Wir sind hier versammelt, liebe Gemeinde, um das Phantom aus dem Bündnerland zu Grabe zu tragen. Nein, nein, nicht Olympia 2022, sondern einen Gefahrenherd aus Fleisch und Blut. Dutzende Vorratskammern plünderte er, Tausenden Gerechten raubte er den Schlaf und manchem Lamm das Leben. Dass kein menschliches Wesen seiner kriminellen Energie zum Opfer fiel, ist purer Zufall.
Schüsse aus dem Puschlaver Hinterhalt haben ihn schliesslich erledigt, diesen Unhold, der wiederholt nahe bei Schulhäusern aufgetaucht war, nachdem er sich laut unbestätigten Quellen in Tankstellenshops ohne Nachweis der Volljährigkeit hektoliterweise mit Alcopops eingedeckt hatte. Ein 14-jähriges Mädchen soll er derart erschreckt haben, dass ihm der Zmittag hochkam (dem Mädchen, nicht dem Bären zum Glück, die Sauerei wäre unerträglich gewesen). Nun gut, die heutige Jugend schaut sich im Kino die übelste Zombie-Metzgete an und hyperventiliert dann, wenn ein Pelztier spielen will. Ein anderes aber fiel in Ohnmacht bei seinem blossen Anblick. Auch wenn ein Bieber namens Justin solcherlei Reaktionen serienweise ungestraft auslöst, war das im vorliegenden Fall untragbar. Der Kerl ist schliesslich ein Raubtier. Wie der Luchs, der Wolf. Der Mensch.
Zugewandert aus dem Trentino, in dessen Population auch ein bärenhaft gebauter Zürcher Stadtratskandidat seine Wurzeln hat, wusste er offenbar je länger, je weniger, wo er hingehörte. Das verwundert nicht in Zeiten, da Pferde sich sogar in die Lasagne verirren. Aber es ist doch ein problematischer Charakterzug. Am alarmierendsten aber war, dass er keine Scheu vor Leuten zeigte. Das ist in der Schweiz unerhört suspekt. Und es passt ins Verhaltensmuster eines Problembären. Ja, M13 war ein Bär mit besonderen Bedürfnissen, bis zum amtlich verordneten Bedürfnis nach ewiger Ruhe. So wollte es das «Konzept Bär Schweiz», das sein Todesurteil war.
Olympia ist tot, der Bär ist tot. Jetzt aber, da seine Bündner Obduktion abgeschlossen ist mit Verdacht auf eine gemeingefährliche Sucht nach Heidelbeerkonfitüre, wollen wir ihn willkommen heissen im letzten Asyl. Es wurde ihm ja schon zu Lebzeiten offeriert: Im Herbst luden wir ihn in dieser Spalte vergeblich ein, das Zürchervolk mit roher Naturgewalt vor kompletter Verweichlichung zu retten. Jetzt soll das lauschige Plätzchen, das wir ihm im Stadthaus an der Limmat als Winterlager anboten, halt postum als Ruhestätte dienen. Auf dass er uns nie mehr aufgebunden werde, der Bär. Zwischenrufe: Grabrede (NZZ 6. März 2013)
Eine rätselhafte Grabrede
Im Kulturteil publiziert die NZZ am 6. März eine rätselhafte Grabrede. Urs Bühler bietet dem aus dem Trentino eingewanderten und meuchlings abgeschossenen Bären das Zürcher Stadthaus postum als Ruhestätte an. Lesenswert!