Das ganze Interview (PDF) Niggi, seit vier Jahrzehnten bewegst du dich als Linker in der institutionellen Politik. Was ist in der Schweiz in dieser Zeit geschehen, wie konnte es zu der heutigen nationalkonservativen Dominanz kommen?
Niggi Scherr: Der Fall der Mauer 1989 und das Ende der Systemkonkurrenz waren ein entscheidender Einschnitt. Die Wenigsten von uns hatten ein gläubiges Verhältnis zum real existierenden Sozialismus. Aber wir hatten unterschätzt, dass allein die Existenz eines Antagonisten zum imperialistisch-kapitalistischen System Raum für Veränderungen bot. In den 1990er Jahren spürten wir schmerzlich, dass ein „grosser Bruder“, der nicht unser Wunschbruder war, uns aber innenpolitisch Spielräume offenhielt, weggefallen war. Wir konnten als Linke in diesem Spannungsfeld eine sozialpolitische Reformpolitik verfolgen, aber es gab ebenso beinharte Limiten, wie weit Veränderungen gehen können. In den 1990er Jahren wurde alles offener; die Systemgrenzen fielen weg, aber auch der antagonistische Gegendruck…
Und dann?
Dann kamen die Phänomene, die man pauschal als Globalisierung bezeichnet, die letztlich aber pure Prozesse der Deregulierung sind. Sozialpartnerschaftliche Errungenschaften aus der Kalten-Kriegs-Aera wurden abgewrackt. Als vermeintlich schützender Gegenpol dazu baute sich eine nationalkonservative Rechte auf, die die Globalisierungs-Ängste ausschlachtete und die Leute in ein geistiges Reduit einbunkerte.
Die Linke dagegen schlingerte herum… Ein Teil begann einen Flirt mit der Marktorientierung. Zur gleichen Zeit entwickelte die EU (Europäische Union) den Plan zur vertieften europäischen Integration, also der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Vorläufer des Euro. Viele Linke sahen darin die Chance für ein soziales Projekt. Das war auch der Kurs der SP Schweiz unter Peter Bodenmann: ein bisschen Deregulierung und Marktorientierung und schrittweise Annäherung an die EU. Alles verbunden mit der Illusion, wir könnten im grösseren europäischen Rahmen einen Schutzschirm für unsere sozialen Errungenschaften finden. Dass die EU zunehmend zum Vorreiter des stattfindenden Deregulierungsprozesses avancierte, wurde verdrängt.
Damit gab es zwei strategische Optionen: Die nationalkonservative Antwort des Rückzugs ins Reduit oder der Marsch in die EU. Weitere Optionen waren nicht präsent. In dieser unbefriedigenden Konstellation bewegen wir uns als Linke seit dem Zusammenbruch der System-Bipolarität. Zwar haben wir seither teilweise erfolgreich Schadensbekämpfung betrieben: wir haben die Strommarktliberalisierung gestoppt und die Privatisierungswelle gebremst. Aber das ist nur defensive Erhaltung des Status Quo, darüber hinaus haben wir kaum Neues erkämpft. Wir haben bloss das Inventar, die Möbel unseres Hauses gerettet…
Was hat diese Entwicklung in der Schweiz genau ausgelöst? Die FDP als einst staatstragende Partei verliert ja permanent an Einfluss, dafür wurde eine bis dahin relativ unbedeutende bürgerliche Partei, die SVP, zur dominanten Kraft. Dagegen steht die SP, die heute in städtischen Gebieten als staatstragende Struktur daherkommt. Was ist hier passiert?
Der Niedergang der FDP hat sicher auch mit der Zäsur von 1989 begonnen – vorher war sie die klassische Leader-Partei der alten Korporations-Schweiz, die Bastion der bürgerlichen Wertvorstellungen und (Wirtschafts-)Interessenspolitik.
In den 1960er- und -70er Jahren fand innerhalb der Arbeiterbewegung und der traditionellen Linken mit den ersten Überfremdungsinitiativen der Nationalen Aktion NA die erste Abbröckelungsbewegung statt. Damals schwenkte ein wesentlicher Teil der Arbeiterbasis der SP und der Linken nach rechts und suchte protektionistischen Schutz vor der Zuwanderung. In den 1990er Jahren gelang es der SVP, diese rechten Restbestände zu sammeln. Daraus hat diese – dank einer professionellen Führung und enormen ökonomischen Mitteln – eine schlagkräftige politische Kraft gestaltet. Damit ergab sich eine neue politische Ausgangslage…
Die SVP ist ein klassisches Konstrukt. In der Führungsspitze sitzen Milliardäre und Banker, und zwar Spitzenleute aus dem neuen Wirtschaftsmilieu, nicht aus dem alten Establishment – also Globalisierungsgewinner. Auf der anderen Seite ist die SVP die Partei, die von Arbeitern, den Globalisierungsverlierern, am stärksten gewählt wird. Die SVP macht da einen unwahrscheinlichen Spagat.
Man sagt den Nationalkonservativen nach, sie hätten eine Diskurshegemonie und könnten Themen setzen… Drückt sich das auch in realen Resultaten des Politikbetriebs aus? Es gibt ja die These, die Nationalkonservativen seien letzten Endes real nicht durchsetzungsfähig, sondern nur laut, und die eigentlichen Gestalter seien die Sozialdemokratie und die bürgerliche Mitte. Andere meinen, es finde eher ein Marsch der SVP in kleinen Schritten statt, bei dem diese letzten Endes zu einer tatsächlichen elektoralen und gestalterischen Dominanz gelangen könnte…
Vordergründig kommen die Nationalkonservativen vielfach nicht zum Zug, weil sie vor allem in den Städten in den Exekutiven nicht mehrheitsfähig sind. In der Themensetzung aber können sie schon eine starke Wirkung entfalten. Dass beispielsweise das Thema Zuwanderung heute einen so hohen Stellenwert hat, zeigt, dass sie andere politische Kräfte zu einem anpasserischen Positionsbezug zwingen können. Nehmen wir die Ausschaffungsinitiative: Ich bin noch heute überzeugt, dass wir ohne den unseligen Gegenvorschlag diese Initiative hätten bodigen können. Nur schon das Aufstellen des Gegenvorschlags hat den Diskurs der SVP legitimiert.
Und die politische Linke, wo steht sie in diesem Spannungsfeld?
Seit 2008 haben wir jetzt bereits drei Jahre Finanzkrise. Aus Schweizer Optik sah es zwischendurch danach aus, als seien wir einmal mehr mit einem blauen Auge davon gekommen. Aber jetzt fährt die Schweiz wieder in unruhigeren Gewässern, und wir wissen nicht, wie sich das auswirkt. Heute formulieren sogar traditionell bürgerliche Meinungsmacher Grundängste, dass der Kapitalismus und das System nicht tauglich sind. Und gleichzeitig ist die Linke unheimlich schwach. Dabei wäre das doch eine historische Chance, zu intervenieren und dieses profitorientierte System zu attackieren. Aber möglicherweise passiert das Gegenteil: die aktuelle Re-Nationalisierung wird noch verstärkt.
In den urbanen Zentren ist die rechtsnationale Polarisierung im Gegensatz zu ländlichen Gegenden zwar präsent, aber nicht durchsetzungsfähig…
Das ist richtig. Aber diese verkürzte These vom Gegensatz Stadt – Land in der Schweiz ist falsch. Die Schweiz kennt einen Gegensatz zwischen Stadt und Agglomeration. Und die Agglomeration ist der Herrschaftsbereich der Nationalkonservativen. Der erste Agglo-Ring beginnt übrigens bereits in den Quartieren am Stadtrand…
Die Entwicklung verläuft bipolar: in den Städten in Richtung Rot-Grün, in der Agglomeration Richtung Nationalkonservative. Die mediale Hegemonie ist dabei zentral. In den Städten gibt es eine minimale gemeinsame Identität, einen gemeinsam erlebten Lebensraum, über dessen Ausgestaltung im öffentlichen Diskurs gestritten wird. Das eröffnet auch einer radikalen Linken Einflussmöglichkeiten. Die Agglo ist anonymer und diffuser, hier spielt die mediale Vermittlung von Inhalten eine stärkere Rolle. Das Agendasetting und die ideologischen Positionen einer rechtspopulistischen Leaderpartei finden hier einfacher Widerhall. Es gibt im lokalen Umfeld keine Gegennetzwerke, die diese Botschaften in Frage stellen könnten. Darum kämpfen Blocher, Tettamanti, Matter & Co auch gezielt um mehr massenmedialen Einfluss.
Ausgehend von einem Grundstock an Alteingesessenen hat es die SVP im Kanton Zürich geschafft, in praktisch allen Gemeinden eine funktionierende Parteiorganisation aufzubauen. Das ist die grosse strategische Leistung der Nationalkonservativen. Die SP dagegen hat lokale Organisationen aufgelöst und existiert praktisch nur noch auf Bezirksebene.
Es gibt ja das Bild der übermächtigen SVP. Stimmt das wirklich, oder ist das nicht ein Trugbild, dass die progressiven Kräfte daran hindert, zu begreifen, was eigentlich abläuft?
Ein Teil der Schwäche der Linken kommt daher, dass man den Gegner als übermächtig empfindet, sich selber aber als strukturelle Minderheit begreift und damit verinnerlicht, dass man aufs Dach bekommt. Dieser Minderheitendiskurs stinkt mir gewaltig. Letztlich ist entscheidend, dass du politische Themen anreissen kannst, mit denen du die Hegemonie der Blocher-Partei über den proletarischen Teil ihrer Wählerschaft punktuell brechen kannst. Das haben wir von der AL mit unseren Initiativen zur Einbürgerung und zur Pauschalbesteuerung gemacht. Sich ducken vor dem Gegner, alles schon im Vorfeld verloren geben: dagegen habe ich immer gekämpft. Natürlich sind wir in einer Minderheit. Aber wenn man Politik macht, muss man ja den Willen haben, in bestimmten Fragen zu einer Mehrheit zu werden.
Mehr Infos: http://www.antidotincl.ch/