Die Strafprozessordnung gibt der Polizei zwar grundsätzlich die Möglichkeit, zur Identifizierung potenzieller Täter Fotos ins Internet zu stellen. Dies ist aber kein genereller Freipass: in jedem Einzelfall muss geprüft werden, ob die Publikation gerechtfertigt, ob sie verhältnismässig ist. Dies ist sie nur in Fällen von schweren Verbrechen oder Vergehen. Bei leichteren Delikten ist der Internetpranger nicht verhältnismässig und damit nicht zulässig. In den aktuellen Fällen rund um den 1. Mai wurden Personen gesucht, welche Taten wie Sachbeschädigung oder Landfriedensbruch verdächtigt wurden. Auch ohne diese Taten gutzuheissen, muss man klar feststellen, dass diese die geforderte Schwere nicht erfüllen. Eingeschlagene Scheiben mit Mord oder Vergewaltigung gleichzusetzen ist nicht nur pietätlos, sondern juristisch falsch.
Bevor nicht ein Gericht einen Schuldspruch gefällt hat, gilt auch in der Schweiz die Unschuldsvermutung. Ob also die Personen, deren Bild als polizeilich gesuchte Tatverdächtige ins Web gestellt werden, überhaupt eine Straftat begangen haben, ist zu dem Zeitpunkt noch offen. Doch das Internet vergisst bekanntlich nicht. Die Bilder vom 1. Mai hat die Stadtpolizei auf ihrer Site mittlerweile entfernt, doch mit wenigen Klicks findet man sie problemlos auch heute noch im Web. Die Auswirkungen auf das Privatleben, die der Internetpranger haben kann, sind jedoch gerade für junge Erwachsene nicht zu unterschätzen. Lehrstelle, Schule oder Anstellung gehen leicht verloren. Bekanntlich sind gerade dies aber wichtige Faktoren, ob ein Junger den Weg ins Erwachsenenleben, das Einfügen in die Gesellschaft, schafft. Wer eine Straftat begeht, soll Konsequenzen daraus ziehen müssen. Als Gesellschaft können wir aber kein Interesse daran haben, dass Personen, die erst verdächtigt werden, bereits der realen Gefahr ausgesetzt werden, aus fundamentalen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gestossen zu werden. Die Option, sich vor der Publikation bei der Polizei zu stellen, lässt sich überdies nicht mit den fundamentalen Rechten zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen vereinbaren. Ganz abgesehen davon, dass sie nur dem offen stünde, der rechtzeitig von der drohenden Gefahr erfährt.
Ich frage mich zudem, wie die Polizei zu den verwendeten Aufnahmen gekommen ist. Denn sie hat weder in der Strafprozessordnung noch im Polizeigesetz eine gesetzliche Grundlage für Bildaufzeichnungen in einer solchen Konstellation. Anscheinend hindert sie dies aber nicht daran, Kameras laufen zu lassen.
Weder Zweck noch angeblicher Erfolg heiligen jedes beliebige Mittel. Schon gar nicht ein von der Polizei in Missachtung des Rechts eingesetztes.
Die Pro- und Kontra-Stellungnahmen von Benno Gasser (Tagesanzeiger) und Alecs Recher (AL) finden Sie hier im vollen als PDF. Lesen Sie zum gleichen Thema auch das Beobacher-Interview mit Rechtsanwältin und AL-Vorstandsmitglied Manuela Schiller “Wer ist als Nächster im Visier?”.