work-Interview mit Peter Bichsel
work: Politikerinnen und Politiker, die sich für ein Nein zur Ausschaffungsinitiative einsetzen, erhalten anonyme Postsendungen mit Kot. Und Ex-Bundesgerichtspräsident Giusep Nay hat erstmals in seinem Leben Todesdrohungen erhalten. Peter Bichsel, was ist los in der Schweiz?
Peter Bichsel: Die SVP funktioniert Abstimmungen zu Wahlen um. Bei ihren Initiativen geht es nicht primär um den Inhalt der Initiativen, sondern um die Wahl der SVP. Die Abstimmung selbst ist die Wahl. Und der SVP ist jedes Mittel recht, diese Wahl zu gewinnen. Denn die Blocher-Partei will den Erfolg. Sie will die absolute Mehrheit in der Schweiz. Und was dann geschehen würde, können wir erahnen. Das macht mir wirklich Angst. Ich fürchte, die SVP ist dabei, unsere Demokratie auszuhebeln. Und ich habe den Eindruck, dass das auch ihr Ziel sei.
Was würde denn geschehen, wenn die SVP die absolute Mehrheit hätte?
Sehr viel. Wir gehen alle davon aus, dass Menschen in aller Welt an der Demokratie interessiert sind. Doch die Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie wird benützt, auch zu undemokratischen Zwecken. Bis jetzt ist das in der Schweiz nicht passiert, weil sich alle politischen Kräfte Mühe gegeben haben mit der Demokratie. Aber nun hat sich das geändert. Die SVP nützt die Demokratie aus, um sie zu relativieren, d.h. sie auf Abstimmungen zu reduzieren. Wir haben kein Grundgesetz, wir haben keine Grundrechte, die verbürgt sind wie in jeder anderen liberalen Verfassung. Es steht also alles zur Verfügung. So wie es SVP-Präsident Toni Brunner sagt: Demokratie sei, wenn man über alles abstimmen könne. Demokratie ist aber mehr als nur: «Wir stimmen ab.»
Laut Umfragen wollen 58 Prozent der Stimmberechtigten Ja stimmen bei der SVP-Ausschaffungsinitiative. Die wollen doch bestimmt nicht die Demokratie aushebeln, oder?
Der Hauptgrund für das Ja dieser Leute dürfte in der folgenden Überzeugung liegen: Es gibt nichts Besseres als diese Schweiz! Und das in der Vorstellung einer zweigeteilten Welt. Es steht auch so in unseren Zeitungen: Inland und Ausland. Die Hälfte der Welt ist Inland. Und die andere Hälfte ist Ausland. In Deutschland zum Beispiel, da weiss man gar nicht, was Inland ist. Inland ist ein absolut schweizerischer Begriff. Diese Vorstellung Inland, Ausland, hat sich in den Köpfen der Schweizerinnen und Schweizer festgekrallt. Und: Wir sind nicht nur die Besten, wir sind auch die Stärksten.
Und deshalb müssen wir alles Fremde abwehren? Woher kommt denn diese Überhöhung der Schweiz? Ich meine, die Schweiz ist klein, hat keine Rohstoffe und auch kein Meer…
Auch ich bin in der Schule zum Patrioten gemacht worden. Übrigens von einem wunderbaren Lehrer, dem ich viel zu verdanken habe. Alle Flüsse der Welt kommen aus der Schweiz und auch die beste Schokolade. Die schönsten Berge sind in der Schweiz usw. Ich sag es immer wieder: Patriotismus ist etwas Verbrecherisches. Und wenn ich das irgendwo sage, sagt der andere: Du meinst wohl Nationalismus. Ich kann da beim besten Willen keinen Unterschied sehen. Offensichtlich ist Patriotismus, wenn ein Schweizer völlig überzeugt ist von der Schweiz. Ist ein Deutscher völlig überzeugt von Deutschland, dann ist es Nationalismus. Nationalismus ist also der Patriotismus der anderen. Das wäre der einzige Unterschied. Patriotismus ist eine Religion. Und Völkerkriege sind immer Religionskriege. Man erklärt das Vaterland zur Religion und zieht im Namen Gottes in den Krieg. Man kann die Cervelat und die Berge und die Schokolade gernhaben, auch ohne ein Patriot zu sein. Ich lebe gern in der Schweiz. Ich rede gern Mundart. Ich bin ein grosser Schwinger-Fan. Ich würde nur anderswo leben, wenn man mich dazu zwänge. Doch ich bin deshalb noch lange kein Patriot.
Wann wird die Liebe zur Schweiz zum heiligen Krieg?
Wenn sie Propaganda wird. Auch ich freue mich, wenn unsere Nati gewinnt. Doch die Gefühle der Leute, ihr Stolz, ihre Freude können ausgenützt werden. Propagandistisch ausgenützt werden. Da wird es brutal: Die SVP nützt die Gefühle der Leute kalt und zynisch aus. Stichwort Ausländerhetze: Ein ganzes Volk wird da verhetzt. Die Angst vor dem Fremden sitzt tief in uns allen drin. In unseren Herzen wohnt ein kleiner Faschist. Den müssen wir mit unseren Köpfen bekämpfen. Die Anhänger der SVP, die sind nicht so ganz anders als ich. Es sind Menschen. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, was man mit diesen Menschen macht. In einer echten Demokratie machen es die Menschen, in einer Scheindemokratie – man nannte das mal Volksdemokratie – macht man es mit den Menschen. Ich habe den starken Verdacht, dass es auch bei dieser Ausschaffungsinitiative um etwas ganz anderes geht als um die Ausschaffung der Ausländer. Es geht um Macht. Dieses Den-Leuten-auf-den-Mundschauen, ein Thema finden, mit dem man siegen kann. Es geht der SVP um den Sieg. Um Sieg und Niederlage…
…Niederlage der Linken?
Es geht um die Niederlage der Linken und der gutwilligen Liberalen, um die Niederlage der «Lieben und Netten». Und so wird es auch weitergehen: Die Rechte wird weiterhin Themen finden, mit denen sie siegen kann.Die Geschichtsvorstellung vom Rütli hilft ihr dabei. 1291 sei das ganze Volk zusammengestanden usw. Die Rütli-Legende stammt aus dem 15. Jahrhundert und ist eine schöne Legende. Doch der Staat, in dem wir leben, ist der Staat von 1848. Wir sind das einzige Land der Welt mit einer liberalen Verfassung, das die Väter seiner Verfassung nicht kennt. Und auch nicht feiert. Es gibt keine moderne Schweizer Geschichte. Denn seit 1848 ist nichts aus unserer Geschichte zu einem Mythos geworden. Ausser vielleicht Alfred Escher, der Zürcher Industrielle und Financier.
Alfred Escher und Christoph Blocher?
Ja, sie gleichen sich sehr. Worauf ich hinauswill: Diese Geschichtslosigkeit seit 1848, die rächt sich jetzt. Auch die Demokratie wurde uns ja aufgezwungen von Napoleon. Und die konservativen Schweizer freuten sich gar nicht darüber. Und das ist auch heute noch so. Man soll die Bedeutung von Geschichte nicht überbewerten. Aber Geschichtslosigkeit hat ihren Preis. Blocher glaubt an eine Schweiz von 1291. Er will das Vaterland retten. Das Vaterland ist auf dem Rütli. Das ist in Sempach. Und der grösste Feind des Vaterlands ist der Staat. Nicht nur der Sozialstaat. Ich hingegen glaube an die moderne Schweiz von 1848. Blocher ist im Vorteil, denn die Legende von 1291 kennen alle. Eine Legende von 1848 dagegen, die gibt es nicht.
Als Blocher würde ich jetzt sagen: Aber Herr Bichsel, die Schweiz hat ein riesiges Ausländerproblem, und Sie dozieren irgendwelches Intellektuellenzeug. Typisch SP, sie will die Überfremdung der Schweiz einfach nicht wahrhaben!
Ich habe noch jene Zeiten erlebt, da es nur eine Sorte Ausländer gab in der Schweiz. Das waren die Italiener. Die sind damals noch mehr beschimpft worden als heute die Jugoslawen. Die Linke in Solothurn machte damals ein Ausländerfest. Wir luden die Italiener ein und feierten mit ihnen zusammen. Die Leute in der Stadt fanden das grauenhaft. Sie beschimpften uns und die «Sautschinggen». Dieses Fest gibt es heute noch, die Bürgerlichen haben es jetzt übernommen. Es heisst jetzt Freundschaftsfest. Da sitzen sie jetzt alle zusammen. Die Bürgerlichen und die integrierten Italiener, die selbstverständlich derselben Meinung sind wie die Bürgerlichen. Und irgendjemand, der einen anderen Augenschnitt hat als wir, verkauft Frühlingsrollen. Das war’s dann. Ausländerproblem… Die Schweiz hatte bereits ein Ausländerproblem, bevor sie Ausländer hatte. Nur zwei liberale Aargauer Gemeinden nahmen Schweizerinnen und Schweizer jüdischer Konfession auf. Damals waren sie die Ausländer, vor denen man sich fürchtete. Juden, Italiener, Spanier, Tamilen, Jugoslawen: Die Schweiz funktioniert offensichtlich nur dann, wenn sie Feinde hat. Feindbilder.
In Ihrem Buch «Des Schweizers Schweiz» haben Sie geschrieben: «Kein anderes Land fühlt sich so bedroht wie die Schweiz.» Warum, wenn wir doch die Besten und Stärksten sind, fühlen wir uns denn so bedroht?
Das sind eben die Nachwehen der Schweizer Kriegsgeschichte: Morgarten und Sempach und Grandson. Ein tapferes kleines Volk hat sich gewehrt gegen ganz Europa und hat überlebt. So der Geschichtsunterricht. Wir leben immer noch in dieser Kriegsgeschichte. Uns gibt es nur, wenn wir gefährdet sind. Die Schweiz will bedroht sein.Die SVP sagt uns: Die Ausländer sind gefährlich, sie sind kriminell, und sie wollen sich nicht integrieren. Mir ist kürzlich Folgendes passiert: Ich sitze in einem vollbesetzten Bus. Vor mir sitzt ein etwa 45jähriger Tamile. Kein hübscher Mann. Es kommt eine schwer gehbehinderte Dame herein, gebläutes, gepflegtes Haar. Der Tamile schnellt auf und bietet der Schweizerin seinen Sitz an. Sie schaut ihn mit hasserfülltem Blick an: Was fällt diesem Kerl ein, jetzt werden diese Ausländer noch freundlich! Gesagt hat sie es nicht. Aber sie hat es signalisiert. Sie hätte den erwürgen können für seine Freundlichkeit.Frage: Was hat dieser Tamile für eine Chance mit Integration? Was hat er für eine Chance, wenn er sich anständig benimmt? Die Frau empfand seine Anständigkeit als Aufdringlichkeit. Was soll er tun? Wenn er sitzen bleibt, heisst es, man hat keinen Platz mehr im Bus. Überall sitzen Ausländer! Wenn er aufsteht, ist er ein frecher Kerl, weil er sich anbiedert. Frage: Wer ist da nicht integrationsfähig? Sind die Ausländer nicht integrationsfähig? Oder sind wir es nicht? Und halten deshalb die Ausländer von der Integration ab?
Bei den Italienerinnen und Italienern hat die Integration aber doch geklappt? Wer steht nicht auf Pizza, Pasta, Espresso und Italianità?
Das ist so. Und das ist doch eine wunderbare Sache! Bei etlichen, die seit zwanzig Jahren mit uns leben und auch gar nicht mehr nach Italien zurückgehen wollen, hat diese Integration übrigens ohne grosse Deutschkenntnisse geklappt. Das Erlernen der ortsüblichen Sprache ist also nicht unbedingt Voraussetzung für eine Integration. Frage: Wenn sie dann Deutsch können, etwa die Schwarzen, mit wem können sie dann überhaupt Deutsch sprechen? Deutsch kann man nicht einfach in der Volkshochschule lernen. Man muss es auch praktizieren können. Aber Sie haben recht, die Geschichte der Italiener ist eine Geschichte beidseitiger Integration. Heute können wir uns schlicht nicht mehr vorstellen, wie die Italiener hier einst behandelt wurden. Wir haben es vergessen. Und die Italiener haben es auch vergessen. Deshalb hat die SVP heute viele italienischstämmige Wählerinnen und Wähler.
Was haben uns die Ausländer gebracht ausser einer besseren Küche?
Lassen wir sie mal alle weg, dann sehen wir, was bleibt. Ich glaube nicht, dass wir dieses Land betreiben könnten ohne Ausländerinnen und Ausländer.
Sie haben den Gotthard gebaut, sie pflegen uns im Spital……
ja, auch das, klar. Aber ich will auf etwas ganz anderes hinaus: Nationalität als Qualität. Schweizer zu sein ist ein teures Gut. Ausländer müssen es sich kaufen. Ich hingegen komme auf die Welt – und schon bin ich Schweizer. Niemand hat mich vorher gefragt. Bin ich jetzt ein besserer Schweizer, weil sich meine Familie schon seit Hunderten Jahren in dieser Gegend rumtreibt? Bin ich ein besserer Schweizer, weil ich mich nicht fürs Schweizersein zu entscheiden hatte?
Der neue Slogan der SVP für die Nationalratswahlen heisst: Schweizer wählen SVP. Sie und ich sind also gar keine Schweizer…
Das meine ich, wenn ich sage, der SVP geht es um die Macht. Und wenn sie die 51 Prozent erzielt, dann sind wir keine Schweizer mehr. Das ist so. Die SVP beansprucht schon die Schweizer Fahne für sich. Jetzt will sie die ganze Schweiz. Das ist, was auf uns zukommt. Doch in der Schweiz denkt man, Faschismus kann überall passieren, nur nicht bei uns. Diese absolute Sicherheit, dass man in diesem Land machen kann, was man will, und es passiert nichts Schlimmes, weil wir ja auch im Zweiten Weltkrieg verschont wurden, das ist schon beeindruckend. Genau dieselben Leute, die klagen, die Städte seien so unsicher geworden wegen der Schwarzen, genau dieselben Leute fühlen sich total sicher. Sie sind überzeugt, dass der Schweiz nichts passieren kann. Und vor allem dann nicht, wenn in Zürich so ein starker König Blocher aufpasst, dass nichts passiert. In 150 Jahren ist es nicht gelungen, aus den Schweizern Demokraten zu machen. Wir sind eine Demokratie ohne Demokraten mit dem Wunsch nach einem König, der dann allein die Demokratie machen soll.
Auch in der Politik braucht es mindestens immer zwei: Nur eine schwache Linke ermöglicht eine so starke Rechte. Wieso kann die Linke der SVP beim Thema Migration so wenig entgegenhalten?
Weil die SVP Politik mit Emotionen macht: Schweizer wählen SVP. Das sind Emotionen. Und die Linke versucht, mit Argumenten gegen Emotionen anzukämpfen. Das ist aber nicht möglich. Sollen wir sagen: Schweizer wählen nicht SVP? Das ist doch Blödsinn!
Nein, aber wir könnten sagen: Schweizer lassen sich nicht abzocken, deshalb stimmen sie Ja zur SP-Steuerinitiative.
Das ist richtig. Wir Linke müssen die soziale Frage thematisieren. Da können wir auch gewinnen. Doch wir leben in sehr apolitischen Zeiten. Nehmen wir die SP Schweiz: Ich habe mehr und mehr den Eindruck, dass meine Partei nichts anderes mehr ist als eine Administrativorganisation für die Bundeshausfraktion. Sonst passiert nichts mehr. Die Sozialdemokratische Partei, die mal Sektionen hatte und Aktionen machte auf dem Dorf, die ist heute reduziert auf die Bundeshausfraktion in Bern. Und diesen Parlamentariern ist es verdammt wohl in Bern. Wann immer ich einen solchen zu Besuch habe, erzählt der mir, dieser oder jener SVPler ist ein ganz prima Kerl, mit dem verstehe ich mich wunderbar. Dann denke ich immer, haben die es schön zusammen, kommen die gut aus miteinander. Da habe ich schon Bedenken. Umso mehr, als es die FDP als Partei auch nicht mehr gibt. Die einzige Partei, die es in der Schweiz noch gibt, ist die SVP. Sie ist nicht aufs Bundeshaus reduziert. Sie hat noch Feuer.
Wo ist denn das Feuer der Linken geblieben?
Ohne Holz kein Feuer. Und die Streichhölzer fehlen auch. Eine Ausnahme gibt es, die Gewerkschaften. Was haben wir 68 doch über die Gewerkschaften am rechten Rand der SP geflucht. Heute sind die übriggebliebenen Linken alle froh, dass es wenigstens noch die Gewerkschaften gibt.
Sind Sie eigentlich noch Mitglied der Unia?
Ja. Ich trat damals in die Gewerkschaft Bau und Holz ein. Aus Solidarität mit jenen, die wirklich arbeiten. Und weil die GBH die einzige Gewerkschaft war, die Gelegenheitsarbeiter aufnahm.
Die Gewerkschaften leben also noch, die SP aber hat das Feuer verloren, und die SVP ist dran, die Schweiz zu übernehmen: schreckliche Aussichten!
(lacht) Ich habe schon die Tendenz, deprimiert am Morgen aufzustehen. Aber so kann man ja nicht leben. Also verbringe ich den Tag mit kleinen Versöhnungen und setze mich an den Stammtisch der SVP-Wähler. Dort stelle ich fest, das sind ja auch nur Menschen. Und wir haben es ja noch gut zusammen. Dann gehe ich getrost nach Hause und ins Bett.
work, 18. November 2010
Interview mit Bichsel als PDF