Sehr geehrte Mitglieder des Gemeinderates,
sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren Stadträte,
Etwas sybillinisch heisst es diesmal im Stadtratsbeschluss vom 21. April: „Das amtsälteste anwesende Mitglied des Gemeinderates, voraussichtlich Niklaus Scherr, eröffnet die Sitzung.“ „Voraussichtlich“ – eine seltsame Relativierung: Ob da jemand befürchtet oder gehofft hatte, ich würde dieses dritte Mal kneifen?
Ich gehöre hier sozusagen zum Inventar. Politisches Urgestein hat mich Koni Loepfe genannt – eine höfliche Umschreibung für Fossil. Doch vor Ihnen steht ein Renegat, einer, der einst als Politikverächter gestartet ist. 1963 hätte ich als Jahrgangsbester des Humanistischen Gymnasiums usanzgemäss die Abschlussrede halten sollen. Als zorniger junger Mann hatte ich auch schon im Kopf, was ich sagen wollte, eine Brandrede und Abrechnung mit der miefigen Bünzlischweiz von damals. In weiser Vorahnung verhinderte dann das versammelte Lehrerkollegium der „Hohen Schule auf Burg“ meine Ansprache, weil es einen Eklat fürchtete. Schliesslich schrieb mir schon der Primarlehrer regelmässig ins Zeugnis: „Stört häufig trotz Warnung“. Aber eines weiss ich noch genau: in dieser Rede, die ich gern gehalten hätte, wäre bei aller Schärfe der Kritik die Politik schlecht weggekommen. Politik das war nichts für einen kritischen Intellektuellen, war gleichbedeutend mit schmutzigen Händen, faulen Kompromissen, Verrat an Prinzipien. Erst der schmutzige Krieg der US-Army in Vietnam hat mich veranlasst, die Zuschauerbank zu verlassen. Mittlerweile bin ich ein solider politischer Handwerker geworden.
Wir alle versammeln uns in diesem Saal Mittwoch um Mittwoch, um Politik zu machen. Die Finanzkrise und der Poker um Griechenland und den Euro bieten reichlich Anschauungsmaterial, was Politik ist und kann, aber auch sein sollte und nicht kann. Ihr grosser Gegenspieler ist etwas, was die Mainstream-Medien beinahe schamhaft „Die Märkte“ oder – damit es etwas persönlicher klingt – „Die Marktteilnehmer“ nennen.
„I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked, dragging themselves through the Negro streets at dawn looking for an angry fix – Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgemergelt hysterisch nackt, wie sie sich im Morgengrauen durch die Negerviertel schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze“ sang Allan Ginsberg 1955 in seinem legendären Gedicht „Das Geheul“. Heute suchen die besten Köpfe ihren Kick anderswo: sie basteln für Hedge-Founds und institutionelle Anleger hochintelligente Computerprogramme, in denen alles Herrschaftswissen gespeichert ist über unsere Gier, unsere Ängste und unser Bedürfnis nach Sicherheit, unser historisches Verhalten in Krisen und Kriegen, unseren unausrottbaren Herdentrieb und vieles mehr. Computerprogramme, die imstande sind, in Millisekunden zuzuschlagen, um auch noch die geringsten Kursdifferenzen an den Börsen auszunützen, die aber auch systembedrohende Abstürze auslösen können.
Vor 30 Jahren rebellierten aufmüpfige Jugendliche und wollten aus diesem Staat Gurkensalat machen. Den Salat richten mittlerweile ganz andere an. Und der Markt, Adam Smiths unsichtbar lenkende Hand, ist selbst seinen feurigsten Apologeten unheimlich geworden. Nach dem 720-Milliarden-Paket zur Euro-Rettung schrieb die NZZ im Wirtschaftsteil: „Das Endspiel der diesjährigen Fussball-Weltmeisterschaft findet in Südafrika statt, das ist klar. Wohingegen an den Finanzmärkten das „Endspiel“ der Schuldenkrise der Industrieländer gespielt wird, steht noch in den Sternen. Rational gesehen, könnte die Krise bald der Vergangenheit angehören. Doch wenn die Marktteilnehmer erst im Panik-Modus sind, stehen rationale Überlegungen nicht im Vordergrund. Hat sich der Markt in ein „Monster“ verwandelt, sucht er stets nach dem nächsten schwächsten Opfer.“
Immerhin: Fussball ist nur ein Spiel. Doch wenn in drei Wochen die WM angepfiffen wird, gelten strenge Regeln. Die Schiedsrichter pfeifen Fouls und Offside und geben Penalties und Eckbälle. In der immer virtuelleren Welt der Finanzmärkte , der Derivate und Hedge-Founds bestimmen dagegen die Player selber die Spielregeln. Aber das ist kein Spiel und hat mehr als handfeste Auswirkungen auf unsere Lebensverhältnisse.
Allenthalben ist vom Kasino-Kapitalismus die Rede. Was für ein krass beschönigender Begriff! Im Kasino gibt es Zutrittskontrollen, Hausverbote, ja sogar Betreuungsangebote für Spielsüchtige. Ich rede da lieber vom „Burghölzli-Kapitalismus“. Dank gütiger Mithilfe der SVP sind wir mittlerweile Spitze im Aufspüren jedweder Sozialhilfe-Tricksereien. Aber ich vermisse schmerzlich die Finanzplatz-Detektive, die sich an die Fersen der Hasardeure in den Chefetagen heften. Ja und ich wünsche mir sehnlichst, dass einigen von ihnen endlich ein fürsorgerischer Freiheitsentzug verordnet wird.
Der Markt mag ein cleveres System zur Güterverversorgung sein. Am Freitag auf dem Helvetiaplatz kann ich verifizieren, ob man mir frische oder mölsche Tomaten andrehen will. Ob die Produkte der Verpackungskünstler der Finanzindustrie noch als Marktangebote durchgehen können oder eher als Teil einer Voodoo-Ökonomie zu taxieren sind, ist allerdings mehr als offen. Soviel aber steht fest: Als System für die Organisation eines Gemeinwesens taugt der Markt entschieden nicht. Der Markt ist blind, amorph, verantwortungslos und er kennt nur das Recht des Stärkeren. In Demokratie und Politik herrscht das Prinzip one man, one woman, one vote. Auf dem Markt gilt das Prinzip: the winner takes all. Auf dem Markt bin ich als Bürger ein namenloses Nichts, in der Demokratie Teil des Souveräns. Auf dem Markt bin ich eine Ameise, in der Politik ein Citoyen, der den aufrechten Gang und notfalls die Rebellion proben kann. Märkte produzieren Ergebnisse und Effekte, für die keiner der einzelnen Teilnehmer Verantwortung übernehmen muss.
Ein Wortführer der Marktmiete, Martin Geiger, hat es in einer amtlichen Bundespublikation kürzlich auf den Punkt gebraucht, was passiert, wenn man eine Stadt dem Markt überlässt: „Auf den schlechten Standorten wohnen die Armen, auf den guten wohnen die Reichen und auf den besten residieren die Firmen.“ Zu Ende gedacht müssten wir in Zürich wegen ihrer geringen Kundenfrequenz und viel zu niedrigen Wertschöpfung schleunigst Gross- und Fraumünster abwracken und durch Banken, Konsumtempel oder Bordelle ersetzen.
Aufgabe der Politik ist es – um im Bild zu bleiben – dafür zu sorgen, dass die Kirche im Dorf bleibt.
Wenn die Politik das nicht mehr schafft, wenn das Gefühl der Ohnmacht Überhand gewinnt, dann schlägt die Stunde der „terribles simplificateurs“, wie sie Jacob Burckhardt genannt hat. Politik ist das geduldige Bohren dicker Bretter, nicht das beliebige Schwenken von Fähnlein im 20-Minuten-Rhythmus.
Damit komme ich zur handfesten Wirklichkeit unseres Mittwoch-Clubs. Rückzüge nicht einberechnet, hat uns der alte Rat 368 persönliche Vorstösse unterschiedlichster Qualität hinterlassen. Da ich mich nicht zum Oberlehrer berufen fühle, verzichte ich darauf, die Vorstoss-Rekordhalter namentlich zu nennen (sie wissen eh selber, wer gemeint ist). Hier nur eine kleine Statistik nach Fraktionen. Nachdem das Rekord-Tandem der PFZ ausgeschieden ist, sind die Schweizer Demokraten mit 21 Vorstössen pro Kopf in der Pole-Position. Das erstaunt nicht, ist die SD doch von allen Kommissionen ausgeschlossen, es müsste unserem Swissness-Duo aber dennoch zu denken geben. Überraschend moderat platziert sich die SVP als Oppositions-Partei mit gerade mal 2.3 Vorstössen pro Kopf, klar im Hintertreffen gegenüber der stets auf mehr Ratseffizienz drängenden FDP mit 3.6 pro Kopf und der Regierungspartei par excellence, der SP, mit 2.6 Vorstössen pro Kopf und insgesamt mehr als einem Viertel aller Vorstösse.
Unsere Aufgabe ist es zu gestalten und zu kontrollieren. Wenn wir die Allgemeine Polizeiverordnung zurückstutzen, den Einstieg in die 2000-Watt-Gesellschaft realisieren und nicht nur proklamieren wollen, wenn wir dem Informations- und Machtvorsprung von Verwaltung und Exekutive ein Gegengewicht entgegensetzen wollen, dann müssen wir uns von einem Grossteil dieser Altlasten verabschieden. Selbstverständlich bleibt es uns unbenommen, weiterhin unsere narzisstischen Ich-AG’s und Ich-GmbH’s zu zelebrieren. Dann aber müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, eine Schwatzbude zu sein.
In all den Jahren hat mich stets ein Gedicht begleitet, das Bertolt Brecht am Vorabend des zweiten Weltkriegs geschrieben hat: „An die Nachgeborenen“. Ich habe damit einem Folteropfer der chilenischen Militärjunta vor bald vierzig Jahren deutsch beigebracht. „Wirklich ich lebe in finsteren Zeiten“ hebt es an und zum Schluss heisst es:
„Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
ohne Furcht verbringen.
Alles das kann ich nicht.“
Ja, ich wäre auch gern weise. Aber der Zorn über die Ungerechtigkeiten dieser Welt und die Wut über die Ungleichheit haben kein Verfallsdatum. Man und frau wird also weiterhin in der einen oder anderen Form mit mir rechnen müssen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Niklaus Scherr /19. Mai 2010