Als ich Anfangs der sechziger Jahre als Junge in die Schweiz kam, wurde zu meinem Erstaunen in der Klasse diskutiert, wer reformiert oder katholisch sei. Ein paar Mädchen und Buben die einander zugeneigt waren, stellten fest, dass sie «nie im Leben» zusammen sein dürfen, weil sie der falschen Seite zugehörten. Im Irak wo wir herkamen, gehörten unsere Familienfreunde diversen Religionen an, und das war nie ein Hindernis im Zusammenleben. Meine Tante heiratete einen sunnitischen Kurden und meine Cousine einen Christen. Als ich mein Erstaunen über die Schweizer Verhältnisse meiner Schweizer Mutter kund tat, sagte sie mir, das sei Geschichte. Früher hätten zwar die Katholiken im protestantischen Zürich keine Kirchen bauen dürfen, aber heute sei die Religionszugehörigkeit kein Problem mehr.
Später lernte ich, dass die revolutionären und liberalen Freisinnigen den demokratischen Schweizer Bundesstaat (mit Hilfe deutscher Asylanten!) gegen die religiösen Konservativen durchgesetzt hatten. Aber auch, dass die Katholiken sich ihre Religionsfreiheit erkämpfen mussten. Doch kaum hatten sie dies erreicht, wendeten sie sich gegen die Juden und setzten in einer Volksabstimmung das Schächtverbot durch. Damals waren es die Freisinnigen, welche sich ohne Wenn und Aber für Religionsfreiheit stark machten. Und hier beginnt mein Erstaunen: Wie kann es sein, dass ausgerechnet jene Partei, die Grundlagen unserer Demokratie durchgesetzt hatte, sich im Abstimmungsvorfeld gegen das Minarettverbot nicht vehement für das demokratischen Grundrecht der Religionsfreiheit einsetzt? In einer halbherzigen Plakataktion ging es der FDP lediglich um den «Religionsfrieden». Wir reden aber hier von einem Grundrecht! Auch in der «Elefantenrunde» des Schweizer Fernsehens am Abstimmungsabend wurde über alles Mögliche geredet: Burka, Parallelgesellschaft, Zwangsehen, Klitorisbeschneidung etc. Die meisten dieser Probleme sind mit der bestehenden Schweizerischen Gesetzgebung zu bekämpfen (was im «Club» sogar der zum rührigen Befreier muslimischer Frauen mutierte Ulrich Schluer eingestand). Erst zum Schluss der Sendung murmelte FDP Parteipräsident Pelli etwas von Beschneidung der Religionsfreiheit. Von der SP und den Grünen will ich gar nicht reden: für sie existiert das Migrationproblem vor allem in der Frage, wohin mit dem Kebabstand am Parteievent.
Nur eines war klar: die SVP konnte zufrieden ankünden, dass sie ihre Kampagne gegen Ausländer weiterführen werde, denn es ginge ja gar nicht um Minarette!
Die Wahrnehmung des «Anderen»
So wie die liberalen Politiker die bürgerlichen Grundrechte dem Diktat der SVP-Propaganda überliessen, so fehlte es auch den meisten Journalisten an analytischem Vermögen. In den letzten Jahren übernahmen sie immer mehr die Begrifflichkeit der gesellschaftlichen Zuschreibung durch die Populisten. Deren verzerrte Wahrnehmung der Realität ist geprägt durch eine politische Agenda, in der Migration grundsätzlich ein Übel ist. So wurde im Vorfeld der Abstimmung, auch nicht mehr darauf hingewiesen, dass es den Populisten um die Ausgrenzung voll integrierter Ausländer geht. Dazu passt auch, dass nach der Abstimmung einer Soft-Feministin wie Julia Onken Platz für ein langes Interview gewährt wird, wo sie ihren Rassismus bebildern darf, und wo es von schwer bepackten Frauen die einige Meter hinter ihren Männern gehen müssen nur so wimmelt und Jugendliche aus dem Balkan welche Frauen als nicht vollwertig akzeptieren. Dass die angebliche männliche Vorherrschaft gegenüber der Frau auch von fundamentalistischen Christen aus der Bibel abgeleitet wird, interessierte niemanden mehr. Dazu passt auch, dass im Magazin einem zweifelhaften amerikanischen Publizisten Raum gegeben wurde, sich über die angebliche islamische Unterwanderung Europas auszulassen. Es wurde eine Gefahr heraufbeschworen, die es gar nicht gibt, und schon gar nicht in der Schweiz. Notabene, von den 400′000 Muslimen in der Schweiz sind nur ca. 10-15% aktiv religiös und praktizieren einen moderaten Islam. Warum wurde nirgendwo über die Migranten muslimischer Herkunft geschrieben, dass sie in ihrer überwältigenden Mehrheit angepasst sind? Und natürlich musste ausgerechnet im Vorfeld der Abstimmung ein Artikel im Tages Anzeiger erscheinen, über die Unterdrückung der Christen in den islamischen Ländern. Wer hatte Interesse daran die Stimmung anzuheizen!
Nach der Abstimmung wurde dann endlich – nebst dem ausführlichen Interview der Befürworterin Julia Onken – den Gegnern der Initiative ein paar Sätze gewährt. Unter dem Titel: «Schweizer Muslime sind wütend». Eigenartig. Hat irgendein Journalist, der über diese Abstimmung schrieb, sich als «Christ» deklariert? Obwohl ich nämlich einer irakisch-schiitischen Klerikerfamilie entstamme, bin ich nicht religiös. Als zutiefst säkularem Menschen sind mir Minarette und Kirchtürme «Hans was Heiri». Wie die Mehrheit der Ausländer muslimischer Herkunft, bin ich der Meinung: Religion ist eine private Sache. In diesem Sinne bin ich nicht Muslim. Diese ungefragte begriffliche Zuordnung sollte aufgeklärten Journalisten zu Denken geben.
Übrigens wütend sind wir Secondos, weil wir diese Minarett-Abstimmung einmal mehr als Rückweisung von uns als Bürger dieses Landes verstehen. Und das war die erklärte Absicht der SVP. Wir haben es verstanden. Der Kampf für eine aufgeklärte und moderne Gesellschaft ist lang und mühsam.
Nichtintegrierte Schweizer
1,5 Millionen Schweizer haben ja gestimmt. Eine Minderheit unter 7 Mio. Einwohnern. Aus den Statistiken kommt zum Ausdruck, dass diese Schweizer hauptsächlich auf dem Land wohnen und daher auch fast keine Muslime kennen. Die Ängste dieser Menschen sind zwar nicht real, denn es gibt keine muslimische Parallelgesellschaft in der Schweiz. Ihr Unwohlsein dagegen ist sehr real.
Ich kann diese Leute verstehen. In den letzten fünfzig Jahren wurde die Schweiz erfolgreich «globalisiert». Kein Stein blieb auf dem Andern. Die Zersiedelung der Landschaft ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die ehemals sicheren Arbeitsplätze in den grossen Industrien wurden nach Asien verlegt. In den Städten leben Menschen aus allen Herren Ländern. Die Migranten, Ausländer und Muslime sind die neuen Sündenböcke, gegen die man sich in dieser Ohnmacht wendet. Dass nicht zuletzt die politischen Rattenfänger (zum Beispiel der globalisierte Milliardärs-Unternehmer Blocher) für diese Malaise verantwortlich sind, wird offensichtlich nicht wahrgenommen. Die Konsenspolitiker der FDP, CVP und SP sollten sich schleunigst um diese in der globalisierten Welt nicht integrierten Schweizer kümmern und nicht an neuen Verboten rumbasteln.
Publiziert im Tagesanzeiger vom 4. Dezember 2009