Seit 30 Jahren ist Niklaus Scherr lokaler Politaktivist – mit viel Pfiff und grosser Beharrlichkeit. Nun will er mit seinen spitzen Brandreden das Bundeshaus unsicher machen.
Von Paul Bösch
Niklaus Scherr im Ständerat – das könnte dem altväterischen «Stöckli» gar nicht schaden. Dass er ein Gewinn wäre, zeigt die Stille, die sich im Rathaus ausbreitet, wenn der markanteste Gemeinderat Zürichs mit seinem unverkennbaren Basler Akzent den Bürgerlichen und den Sozialdemokraten die Leviten liest.
Als Vertreter einer kleinen Linkspartei wird der 59-Jährige den frei werdenden Zürcher Ständeratssitz freilich niemals erobern können. Das weiss der langjährige Stadtparlamentarier der Alternativen Liste selber auch. Er kandidiert am 19. Oktober, weil er damit einen zweiten Wahlgang erzwingen will; zu Gunsten des bestplatzierten Kandidaten des rot-grünen Spektrums würde er sich dann zurückziehen. Vor allem aber: Die Publizität, die mit dieser Kandidatur verbunden ist, soll seine zweite Bewerbung beflügeln, die Kandidatur für den Nationalrat.
«Scherr nach Bern!», lautet denn auch der doppelsinnige Wahlslogan. Nach Bern drängt es Scherr umso mehr, als er nun schon ein Vierteljahrhundert im Zürcher Gemeinderat sitzt, fast zu lange schon.
Schon bisher auf Bundesebene aktiv
Der Wechsel von der lokalen in die nationale Politik fiele Scherr leicht. Denn heute schon beteiligt er sich immer wieder an Kampagnen auf eidgenössischer Ebene. Ob Drogenlegalisierung, Stadt-Land-Initiative, Mitenand-Initiative, Schnüffelstaat-Initiative oder Kampf gegen die Privatisierung des Strommarktes – überall war «der Niggi» an vorderster Front dabei.
«Ich war bisher eher wie ein lokaler Exot auf Bundesebene aktiv, und ich möchte das jetzt gleichsam auf einen regulären Level bringen», sagt er. Es wäre dies «der sinnvolle Abschluss einer politischen Laufbahn», eine «neue Herausforderung vor der Pensionierung».
Das tönt nach Altersmüdigkeit, doch nichts wäre verfehlter als diese Vorstellung. Der fitte und drahtige Endfünfziger, den SP-Präsident Koni Loepfe einst als «eine Art linkes Urgestein» bezeichnet hat, politisiert mit ungebrochenem Elan. Erst in jüngster Zeit hat er Erfolge ernten können, die ihm lange vergönnt waren (siehe Interview). Er ist im Zürcher Gemeinderat zu einer Autorität geworden. Tauchen Verfahrensfragen auf, ist es oft Scherr, der den Knoten löst. Wie anerkannt er ist, zeigt das Faktum, dass kein anderer Ratskollege bei den letzten Wahlen so viele Fremdstimmen hatte wie er.
Niklaus Scherr erträgt Ungerechtigkeiten nur schlecht, das ist einer seiner Antriebe. Schon als Kind war er eine rebellische Natur. In der Schule war er unterfordert und nervte seine Lehrer mit vorlautem und aufbrausendem Verhalten. Am Humanistischen Gymnasium las er während des Unterrichts heimlich gesellschaftskritische Literatur.
Als Student und Deutschlehrer lebte Scherr im unruhigen Paris der 60er-Jahre. Hier wurde er politisiert. Er wollte revolutionäres, linkes Denken mit «spontimässigem» Engagement verbinden. Zum politischen Praktiker wurde er in Zürich, wohin er 1972 übersiedelte – aus Liebesgründen. Auch als Berufsmann war Scherr stets ein halber Politiker: als Funktionär der Linkspartei Poch, einer Mediengewerkschaft und – seit 1988 – als Geschäftsleiter des Mieterinnen- und Mieterverbands Zürich. Doch Politik ist nicht sein ganzes Leben. Lesen, Herumhängen, Schwimmen, Velofahren, das alles ist ihm wichtig. Er, der in der Öffentlichkeit oft und gerne austeilt, ist selber ein verletzlicher Mensch, der Lyrik schreibt und – in sentimentalen Momenten und auch sonst – die Gedichte Pablo Nerudas liest.
Als Single bewohnt er eine Dreizimmerwohnung im Langstrassenquartier. Er war mehrmals liiert, einmal sogar verheiratet. Kinder wollte er bei seiner bewegten Lebensweise nicht haben.
Gescheit, beharrlich, unabhängig
Niklaus Scherr ist in all den Jahren immer der Gleiche geblieben. Sein Outfit stammt aus der 68er-Zeit, nur das Bärtchen ist mit der Zeit etwas grauer geworden. Er ist gradlinig, beharrlich bis stur, kein Mann der schnellen Kompromisse. Weil er sich stets um Unabhängigkeit bemühte, kann er Dinge beim Namen nennen, die andere nicht mehr zur Sprache bringen dürfen. Dass er auf dem noblen Berner Parkett den Tritt nicht finden könnte, glaubt er nicht: «Ich kann mich auf verschiedenen Terrains bewegen.» Im Bundesberner Biotop «die Bodenhaftung», den Kontakt mit den Wählern nicht zu verlieren, sieht er als die grösste Herausforderung an. «Ich möchte nicht eine Hors-sol-Pflanze werden», sagt er und betont, wie wichtig es sei, einen Hintergrund zu haben. In seinem Fall den Mieterverband mit seinen 40 000 Mitgliedern, die Gewerkschaften, die Ausländerinnen und Ausländer.
Zwischenrufe nicht ausgeschlossen
Dass Scherr so brillante Brandreden hält, verdankt er nicht nur seinem Ideenreichtum und der raschen Auffassungsgabe. Es ist auch die Lust am Widerspruch, die ihn anstachelt. Seine Voten sind gespickt mit spöttischen Seitenhieben, und immer wieder entlädt er sich mit Zwischenrufen.
Niklaus Scherr weiss, dass er manchmal verletzend wirkt. Er sei aber nicht zynisch, versichert er, und er bemühe sich um Zurückhaltung. Das gelingt freilich nicht immer, und auch für Bern kann er «nicht ausschliessen, dass ich einmal vom Ratspräsidenten wegen eines Zwischenrufs einen Verweis erhalten werde». Schon 25 Jahre sitzt er nun im gleichen Parlament. Das dürfte dazu beitragen, dass er manchmal gereizt ist und Starallüren zeigt.
Niklaus Scherr im Bundeshaus – das könnte seiner Persönlichkeitsentwicklung gar nicht schaden.
Tages-Anzeiger, 20. September 2003