Von Paul Bösch
Für den 2002 zurückgetretenen Stadtrat Thomas Wagner war Niklaus Scherr ein rotes Tuch, mitunter sogar eine Nervensäge. Immer wieder hat der altgediente AL-Gemeinderat Wagners Pläne zu durchkreuzen versucht, wenn es darum ging, das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) auf die Marktöffnung vorzubereiten. Als «Totengräber des EWZ» wurden Scherr und seine Gesinnungsgenossen verunglimpft, doch rückblickend muss diesen Kritikern attestiert werden: So völlig daneben waren sie nicht. Sie können einige Erfolge verbuchen:
Im Juni 2000 lehnte das Volk die Umwandlung des EWZ in eine AG überraschend ab.
Stadt- und Gemeinderatsmehrheit hatten die Befürchtungen, welche Privatisierungen auslösen, und den weit verbreiteten Wunsch nach einem starken Service public unterschätzt. Es gelang ihnen nicht, die Vorteile überzeugend darzutun, welche eine Ausgliederung des EWZ aus der Stadtverwaltung gehabt hätte.
Und dieser Erfolg blieb kein Einzelfall. Im September 2002 lehnten die eidgenössischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Strommarktliberalisierung ab. Der Entscheid überraschte nicht mehr, nachdem auch eine kantonalzürcherische Ausgliederungsvorlage bachab gegangen war.
Und jetzt hat der Regierungsrat Scherrs Beschwerde gutgeheissen und Verträge aufgehoben, mit denen das EWZ mittelgrossen Kunden Rabatte gewähren wollte. Scherrs Argument, solche Sonderbehandlungen verstiessen gegen die gesetzlich geforderte Gleichbehandlung, erwies sich als richtig (TA vom 30. Mai).
Trotz seiner Niederlage empfiehlt der Stadtrat dem Gemeinderat, die Sache auf sich beruhen zu lassen und den Entscheid des Regierungsrats nicht an die nächste Instanz zu ziehen. 44 Strombezüger sollen Rabatte im Umfang von 6,9 Millionen Franken zwar noch behalten können, doch die Verträge über die Preisnachlässe seien aufzulösen. Andere Verträge, die rechtsgültig sind und Rabatte für Grosskunden regeln, will der Stadtrat zumindest nicht erneuern. In einigen Fällen wird sogar nachverhandelt (TA vom 22. Mai).
Türler und Wagners Erbe
Mit diesen Anträgen versucht Stadtrat Andres Türler (FDP), der als Vorsteher der Industriellen Betriebe Wagners Erbe anzutreten hatte, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Sogar Niklaus Scherr reagierte verhalten positiv auf diesen Versuch, reinen Tisch zu machen.
Mit diesem neuen Kurs soll eine Epoche beendet werden, in der sich das EWZ und die Behörden zu euphorisch auf die Marktöffnung eingestellt haben. Es war zwar unumgänglich, dass das EWZ gute Kunden mit Rabatten an sich zu binden suchte. Das tat die Konkurrenz auch, und das EWZ hätte sich in Gefahr gebracht und unwirtschaftlich gehandelt, wenn es bei diesem Wettbewerb nicht mitgehalten hätte.
Doch man hätte die Preisnachlässe nur unter der Bedingung versprechen dürfen, dass der Strommarkt auch wirklich liberalisiert wird. Eine solche Kündigungsklausel fehlt aber bei vielen Stromlieferverträgen, die in den letzten Jahren abgeschlossen wurden.
Auch ist man zu leichtfertig über die Bestimmung im kantonalen Energiegesetz hinweggegangen, wonach die Stromverteiler ihre Energie «grundsätzlich gestützt auf allgemein verbindliche Gebühren» abgeben müssen. Diese Norm verbietet es, eine Kundenkategorie pauschal in den Genuss von Rabatten kommen zu lassen, befanden sowohl der Bezirks- wie auch der Regierungsrat, die über Niklaus Scherrs Beschwerde zu entscheiden hatten.
Scherr pochte immer wieder auf diesem Punkt, doch seine Kontrahenten taten ihn als Paragrafenreiter ab. Jetzt ist genau dieser Paragraf zum Stolperstein für das EWZ geworden.
Marktöffnung bleibt ein Thema
Die Liberalisierung des Strommarktes wird weiterhin ein Thema bleiben. Was rund um unser Land herum Praxis ist, kann uns nicht völlig unberührt lassen. Darüber können die Teilsiege, die Niklaus Scherr und seine Mitstreiter verbuchen dürfen, nicht hinwegtäuschen.
Für diesen weiteren Weg sollte die Epoche des Übereifers, unter die Stadt- und Gemeinderat jetzt einen Schlussstrich ziehen wollen, ein Lehrstück sein. Bei Neuerungen einen kühlen Kopf bewahren und besser auf die Kritiker hören, muss die Devise heissen.
Tagesanzeiger, 9. Juni 2003