Von Paul Bösch
Seine Freunde decken ihn mit Spott und Ratschlägen ein. Morgen eröffnet Niklaus Scherr als Amtsältester die neue Legislatur des Gemeinderats. Der aufmüpfige Ratsneuling von 1978 als Alterspräsident – wer hätte das gedacht! «Auch ich habe ambivalente Gefühle», sagt der 58-jährige Vertreter der Alternativen Liste. Er weiss, dass von ihm eine Rede erwartet wird, die sowohl zornig als auch weise ist.
Es ist Fraktionssitzung. Niklaus Scherr hetzt zur Tür herein, er ist wieder einmal zu spät. Beim Absitzen schnappt er auf, wovon die andern reden, um sich in die Diskussion einzuschalten: mit gescheiten Hinweisen, träfen Sprüchen und mit Gedankengängen, die zwei Stufen auf einmal nehmen. Schon vor fünfzig Jahren war er so. «Kann seinen Redefluss nur schwer zügeln», war eine der Bemerkungen, die mehr als einmal im Zeugnis stand. Eine andere: «Stört häufig trotz Warnung.» Niklaus Scherr, 1944 in Riehen BS geboren, war ein rebellisches, zum Jähzorn neigendes Kind. Er begriff sehr rasch, war in der Schule unterfordert und schikanierte aus lauter Langeweile die Lehrer.
Als er 14 Jahre alt war, starb sein Vater an einem Herzinfarkt. Das war prägend: «Mein Vater hat sich vom Arbeiter zum Kleinunternehmer emporgearbeitet. Er opferte seine ganze Lebensqualität, und dann starb er mit nur 51 Jahren. Ein solches Leben wollte ich nicht.» Am Humanistischen Gymnasium hatte Scherr unter der Bank Kafka, Dostojewski oder Camus aufgeschlagen. Er war gesellschaftskritisch im Sinne von Roman Brodmann und Max Frisch. Die Politik interessierte ihn noch nicht. Als er 1963 mit dem Studium in Germanistik, Französisch und Italienisch begann, hatte er eine universitäre Karriere im Sinn.
Die Politisierung begann 1965 an einer Vietnam-Demonstration. Von 1966 bis 1969 weilte er als Deutschlehrer in Paris. Er hatte sein Zimmer neben Niklaus Meienberg mitten im Zentrum des Geschehens. «Die Begegnung mit Studierenden aus der Dritten Welt und die Massenstreiks von damals füllten meine oppositionelle Grundstimmung mit Inhalten an.» Die intellektuellen Diskurse der Salon-Revolutionäre interessierten ihn weniger. Er wollte intellektuelle Präzision mit «spontimässiger Praxis» verbinden.
1969 kehrte er nach Basel zurück, machte das Lizenziat und arbeitete als freier Journalist und Übersetzer. 1972 kandidierte er erstmals für die Progressiven Organisationen (Poch), die Vorgängerpartei der Alternativen Liste.
Beharrlich und unabhängig
Die Liebe zu einer Frau führte ihn 1972 nach Zürich, wo ihm das Poch-Sekretariat angetragen wurde. 1978 trat er in den Gemeinderat ein. Von 1980 bis 1988 war er Sekretär der Gewerkschaft der Fernsehjournalisten, dann kam er zum Mieterinnen- und Mieterverband Zürich, dessen Geschäftsführer er heute ist.
Die Erfolgserlebnisse im Beruf lassen ihn die Niederlagen ertragen, die ein Minderheitenpolitiker hinzunehmen hat: «Diese Bodenhaftung half mir, in der Politik nicht zum Opportunisten zu werden.» Niklaus Scherr ist beharrlich bis stur. Er bleibt seinen Grundsätzen treu und will nicht die Konturen durch vorschnelle Kompromisse verwischen. SP-Präsident Koni Loepfe hat ihn einst als «linkes Urgestein» bezeichnet.
Er ist nur mit wenigen Ratskollegen ausserhalb seines politischen Spektrums per Du. Er will unabhängig bleiben: «Ich kann Dinge beim Namen nennen, die andere nicht mehr zur Sprache bringen dürfen.»
Scherrs Voten sind schneidend scharf, oft wahre Spottreden. «Polemik und Häme gehören zur Politik. Ich habe Ironie, doch zynisch bin ich nicht», sagt er. Dass sich seine Ratskollegen mitunter als abgekanzelt vorkommen müssen, ist ihm bewusst: «Ich halte mich oft künstlich zurück, ich arbeite daran.» Auch schon hat er sich für eine spitze Bemerkung entschuldigt.
Viele Parlamentarier schleifen sich im Laufe der Jahre ab und werden frustriert. Nicht so Niklaus Scherr. Er ist heute das markanteste der 125 Gemeinderatsmitglieder und konnte in jüngster Zeit einige Erfolge verzeichnen, so etwa gerade wieder am Wochenende im Kampf gegen die Beteiligung der Stadt Zürich am Aktienkapital der Swiss, weiter beim Nein zur EWZ-Privatisierung und beim Ja zur Verbilligung der Krankenkassenprämien. Vor zwanzig Jahren raschelten die Bürgerlichen mit der Zeitung, wenn er redete, heute werden auch sie mäuschenstill.
Nachdenklich und verletzlich
Niklaus Scherr ist zu einer Autorität geworden. Seine Kompetenz, seine brillanten Voten, der Ideenreichtum und seine Geradlinigkeit haben dazu beigetragen, dass er am 3. März mehr Fremdstimmen machte als alle andern Ratsmitglieder. «Ich ertrage Ungerechtigkeiten schlecht», sagt Niklaus Scherr auf die Frage nach seiner Motivation. Und er fügt hinzu: «Wenn man gewisse Fähigkeiten hat, ist man der Gesellschaft etwas schuldig.»
Niklaus Scherr kann mit der institutionellen Religiosität nichts anfangen. Aber es gibt für ihn ethisch-moralische Grundnormen. So wie andere aus der Bibel Kraft schöpfen, liest er die Gedichte Pablo Nerudas, wenn er traurig oder verliebt ist.
Es ist Gemeinderatssitzung. Niklaus Scherr wetzt leichtfüssig durch den Ratssaal, in der Hand das Rivella-Fläschchen. Er verhandelt hier und dort. Zurück am Platz, verlangt er das Wort. Doch seine vielen Reden genügen ihm nicht. Immer wieder entlädt er sich mit Zwischenrufen.
Ist der Vollblutpolitiker Tag und Nacht auf Achse, immer am Mischeln? Der Eindruck täuscht. Nicht einmal für das Studium der städträtlichen Weisungen wendet er viel Zeit auf. Dank seiner guten Auffassungsgabe ist er rasch à jour. Der Morgenmuffel braucht viel Zeit zum Lesen und Herumhängen, zum Schwimmen und Velofahren. Man sieht es dem drahtigen 58-Jährigen mit dem immer gleichen Vollbärtchen an, dass er fit ist.
Mit Einblicken ins Privatleben hält er zurück. Nur so viel: Niklaus Scherr schreibt mehr Gedichte als Interpellationen. Er ist ein nachdenklicher, verletzlicher Typ, der sich vor acht Jahren mit chinesischer Meditation aus einer Depression befreite. Er lebt zurückgezogen und bewegt sich privat bewusst ausserhalb der Politszene. Er ist geschieden und bewohnt seit über 20 Jahren eine Dreizimmerwohnung im Langstrassenquartier. Kinder zu haben, lehnte er bei seiner unruhigen Lebensweise bewusst ab.
Niklaus Scherr hat keine klaren Vorstellungen von seiner Zukunft. Gerne würde er Nationalrat werden. Dass er nun schon 24 Jahre im selben Stadtparlament sitzt, löst auch bei ihm gemischte Gefühle aus. Doch er sagt sich: «Die Politik ist nun einmal das Handwerk, das ich gelernt habe und verstehe.»
Tagesanzeiger, 9. April 2002