Gewisse Gegenden in der Stadt Zürich sind seit ein paar Wochen orange. Die Fahnen der Konzernverantwortungsinitiative hängen von gefühlt jedem dritten Balkon und wenn man genauer hinschaut, sieht man auch die Beutel an den Schultern und die Sticker auf den Laptops. Die Mobilisierung läuft schon seit einer Weile höchst erfolgreich, mit aktiven Lokalkomitees. Auch wenn man aus Zürich sicher nicht auf die ganze Schweiz schliessen kann, befällt einen zwischendurch das Gefühl, dass diese revolutionäre Initiative am 29. November tatsächlich durchkommen könnte. Was einem Paradigmenwechsel gleichkäme.
Der Zeitpunkt der Abstimmung ist gleichzeitig von Vor- und von Nachteil. Von Nachteil, weil die Wirtschaft weltweit unter der Corona-Krise leidet. Das schürt erfahrungsgemäss Unsicherheit, zementiert den Status Quo und führt oft zur Verwerfung mutiger Vorhaben mit Vorreiter-Charakter. Von Vorteil aber, weil seit dem Ausbruch der Pandemie sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Verantwortung einen neuen, grösseren Stellenwert in den Köpfen der Menschen einzunehmen scheint.
Der Schweizer Alleingang
Das «Jeder schaut für sich allein» und das bedingungslose Wachstumsstreben der marktgläubigen Gesellschaften sind ausgesetzt. Auf einmal gibt es Wichtigeres zu verteidigen als das Wachstum: das Leben und die Gesundheit der Mitbürger*innen, die Arbeitsbedingungen des medizinischen Personals und die Überlebenschancen von Kleinstunternehmen. Auch die Globalisierung scheint in der Krise nicht so weit fortgeschritten, wie man zuvor gemeint hat. Grenzen wurden von einem Tag auf den anderen geschlossen, und Regierungen erliessen Gesetze und Regeln, die alles andere als koordiniert waren. Im globalen Wettbewerb ging es weniger darum, wer am meisten verdient, sondern wer am wenigsten Tote zu beklagen hat.
Das Selbstbewusstsein und die Entschlossenheit, mit der die Regierungen im Alleingang handelten, zeigen, dass mutige Schritte im Namen des Gemeinwohls durchaus möglich sind – der «Schweizer Alleingang», vor dem das Nein-Komitee warnt, kann so ins Positive umgedeutet werden. Bei den Anliegen der Initiative handelt es sich nämlich mitnichten um eine Selbstverständlichkeit, wie es auf ihrer Website steht. Nein, sie wären sogar ein Tabubruch und vielleicht der Beginn einer veränderten, nicht nur auf Geld und Rendite, sondern auf Menschenrechte und verantwortungsvolles Unternehmertum ausgerichtete Globalisierung.
Demokratische Entscheidungsmacht
Dass sich gewisse Unternehmen Konkurrenzvorteile durch Verantwortungslosigkeit verschaffen, ist im Zeitalter der entfesselten Märkte seit Langem Realität. Regulierungsversuche dagegen gab und gibt es immer wieder, doch geht es dabei nicht um Ethik oder Gerechtigkeit, sondern darum, die eigene Wirtschaft zu stärken und sich in Krisenzeiten die Unterstützung des Volkes zu sichern. Beispiele dafür sind etwa Mietpreisbindungen oder verschärfte Banken-Regulierungen nach der Finanzkrise. Die Konzernverantwortungsinitiative dagegen geht über solch selektive, auf den nationalen Rahmen beschränkte Massnahmen hinaus, ihre Regulierungen gelten umfassend und haben kein Ablaufdatum.
Die Annahme der Initiative käme daher einer kleinen Revolution gleich. Während die Finanzströme und die Gier einzelner Unternehmen schon lange internationalisiert sind und keine Grenzen mehr kennen, machen Verantwortungsgefühl und Solidarität meist Halt vor der eigenen Haustür. Das widerspricht nicht nur dem individuellen Gewissen der meisten Bürger*innen, sondern auch dem Selbstbild einer demokratischen Gesellschaft. Die Entscheidung, was rechtens und gerecht ist, darf nicht allein bei den Kapitalisten liegen, die uns mit ihren Produkten versorgen. Die Gesellschaft soll und muss hier mitentscheiden können.
Verantwortungsvolle Unternehmen sagen Ja
Die Gegner der Initiative befürchten, diese füge dem Fortschritt und der Innovation Schaden zu. Das ist natürlich absoluter Quatsch. Spätestens seit dem Auftritt der Fridays-for-future-Bewegung haben auch viele Konzerne realisiert, dass Ethik, umweltbewusstes Handeln und die Verteidigung der Menschenrechte künftig unabdingbar sind und langfristig auch ein Wettbewerbsvorteil sein können. Das zeigt die lange Liste der Unternehmer*innen, die das «Komitee für verantwortungsvolle Unternehmen» unterstützen. Sie haben erkannt, dass die Zukunft Unternehmen gehört, die ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen, nicht den rücksichtslosen Spekulanten.
Lisa Letnansky
Aus: AL_Info 20/03
Lisa Letnansky: Konzernverantwortungs-Initiative -Zeit für einen Tabubruch (PDF)
Mehr Infos zur Initiative: https://konzern-initiative.ch